Finde hier jede Menge lebendiger Inspiration und Tipps, um deine Lebenserinnerungen, deine eigene Biografie zu schreiben und in Form zu bringen! Geschrieben von einem Kind der Fünfziger Jahre, geboren im Kohlenpott. Gedacht FÜR DICH!

Montag, 31. Mai 2021

Biografie: Aussteuer und Heiratsmarkt in den 1970er- Jahren

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

"Schreib mal hier, wann es weitergeht mit Hannah", schrieb eine Freundin kürzlich in einer meiner Whatsapp-Gruppen. Das klang nach Interesse. Offenbar war man gespannt. Bestens ...! Und da ich hoffe, dass es euch ebenso geht, kommt hier die nächste Fortsetzung:

Kurzes Update: Hannah  ist verdammt froh, dass sie es gewagt hat, den Ausbildungsbetrieb zu wechseln. Bei der Firma Coca-Cola fühlt sie sich wohl. Alles ist so modern. Fast macht die Ausbildung Spaß. Sie gewöhnt sich allmählich an den Gedanken, dass eine Karriere als Ehefrau für sie ja vielleicht doch als Alternative für Gymnasium und Studium in Betracht kommen könnte. Versuchen könnte sie es zumindest. Bald trudelt das erste Lehrgeld des  neuen Lehrherrn ein und Hannah besinnt sich darauf, was man am besten damit anstellen könnte. Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Aussteuer kaufen natürlich.

Und nun zur Geschichte selbst:

 

Marktwert
Die erste Ausbildungsvergütung war auf ihrem Konto eingetrudelt. Stolz ließ Hannah sich die zweihundert Mark bei der Sparkasse auszahlen, lieferte sie zu Hause ab und erhielt im Gegenzug fünfzig Mark Taschengeld. Deutlich mehr als bisher – dennoch ärgerte sie sich, erst recht, als sie mitbekam, dass die anderen Lehrlinge und Anlernlinge zu Hause Kostgeld abgaben und den Rest für sich behielten. Das wollte sie auch! Als der zweite Monat vorüber war, sprach sie es an und klopfte ihre Eltern weich, leichter als gedacht.

Das Geld konnte Hannah mit ihren fünfzehn Jahren gut gebrauchen. Es gab ja so viel, was sie gern kaufen würde. Und kaufen sollte. Beglückt erstand sie von nun an an den Ramsch- und Grabbeltischen in den Kaufhäusern und Buchläden der Essener Innenstadt jede Menge billiger Bücher, vom Simmel- oder Konsalik-Roman über Koch- und Back-, Strick- und Häkelbücher bis hin zum italienischen oder spanischen Sprachführer. Dazu Schmuckausgaben von Shakespeare, Goethe, Schiller ... Lesend konnte man ja auch ohne Studium seinen Kopf füllen, dachte sie, und dabei gleichzeitig ein paar praktische Kenntnisse erwerben. Seit Tante Rut ihr das kleine Buch „Freundschaft mit Büchern“ geschenkt hatte, war Hannah wild entschlossen, eines Tages eine eigene Bibliothek zu besitzen. 

Außerdem begann sie nun mit Volldampf, sich ihre Aussteuer zusammenzukaufen, für ein gemütliches Leben zu zweit. Wenn sie allein zu Hause war, baute sie ab und zu ihre Beutestücke dekorativ auf dem Familien-Esstisch auf: orangefarbene Tischsets mit großen Ornamenten, dazu passende Stoffservietten und Serviettenringe mit Stoffbordüre, ein sonnengelbes, bauchiges Kaffeeservice aus Steingut, glänzende Eierbecher und Aufschnittplatten von WMF, einen Satz der gerade angesagten Bestecke mit rustikalen Holzgriffen, braun glasierte Backformen im Großmutter-Look und eine Serie von Glasschüsseln und -platten mit Rändern aus Glaskugeln. Lauter schöne Dinge für ihre spätere Küche, die natürlich viel schicker sein würde als die Küche daheim, in der sie als Kind hatte schlafen müssen. Immer wieder befühlte sie die flauschigen Frotteetücher in Orange und Burgund, gemusterte Geschirrtücher, Damast-Bettwäsche in Apfelgrün und Apricot, die sich schon bald in ihrem Schrank stapelten, betrachtete die Tischdecken und Kerzenleuchter und all die anderen großen und kleinen Anschaffungen, die sie Monat für Monat machte - fast ausnahmslos, indem sie Sonderangebote nutzte, und hochbeglückt über ihren Jagderfolg. 


Je mehr sie sammelte, desto mehr fühlte es sich wie ein schöner Traum für sie an, all diese Dinge in ihrem eigenen Haushalt zu benutzen. Sich und ihrem Traumprinzen damit das Leben schön und behaglich zu machen. Dass auch sie einmal heiraten sollte, stand für sie inzwischen fest. Zumindest für den Moment hatte sie sich arrangiert. Und sie war gespannt darauf, wie es sein würde, das Leben als Ehefrau. 

Sie hielt es für unabkömmlich, etwas für ihren Marktwert zu tun. Gute Köchinnen und Hausfrauen wussten Männer angeblich als Ehefrauen sehr zu schätzen, Jungfrauen erst recht. Waren die Frauen aber auch noch schön, stiegen ihre Chancen, eine gute Partie zu machen, beträchtlich. Hannah tat, was sie konnte. Sie versorgte ihre Haare mit hundert Bürstenstrichen täglich, um sie zum Glänzen zu bringen. Sie zupfte sich die Augenbrauen, bearbeitete ihre Haut morgens mit einer Massagebürste, bis der ganze Körper rosig schimmerte, schminkte mich – mit viel blauem und weißem Lidschatten, Mascara und Lippenstift - und lackierte sich die Fingernägel im jeweils passenden Farbton. Besonders aber kämpfte sie um eine gute Figur. Auf keinen Fall wollte sie so dick werden wie Mutti, die schon stolz war, wenn sie ein Kleid in Größe 50 statt in Größe 52 fand, in das sie hineinpasste. Mutti, die alles mit Appetit alles, was süß und fettig war und ihr schmeckte, ihre Witzchen darüber machte und nebenher von den angeblichen Segnungen pflanzlicher Abführmittel berichtete. „Die sind ganz natürlich und danach hat man morgens leicht ein Kilo weniger auf der Waage. Einfach fabelhaft. Und wenn das nicht reicht, macht man ab und zu eben einfach eine Diät.“
Wenn Mutti das sagte,  musste das wohl stimen.
„Wer schön sein will, muss leiden“, unkte Oma. Auch das glaubte Hannah und versuchte, danach zu handeln.
Bereits mit dreizehn Jahren hatte sie so, gemeinsam mit Mutti, ihre erste Diät hinter sich gebracht. Dank Jojo-Effekt waren bald schon weitere Hungerkuren gefolgt, von Atkins bis Brigitte, von der Punkte-Diät, bei denen ihr die Mettwürstchen schon bald aus den Ohren herauskamen, von denen man reichlich essen durfte, solange man auf Kohlehydrate, also auch auf Obst und Gemüse, weitgehend verzichtete, bis hin zu Sauerkrauttagen. Albträume von verbotenerweise genossener Sahnetorte oder saftigen Weintrauben und stetiges Unwohlsein quälten sie, doch sie stand es durch. Sie musste ja. Wie sonst sollte sie eine gute Partie machen können.

Wie selbstverständlich bereitete sie sich auf eine „Karriere“ als Ehefrau vor. Inzwischen zeigte der Blick in den Spiegel ein ansehnliches, hochgewachsenes Mädchen mit verträumten blauen Augen, nur leicht stämmigen Beinen, einem afrikanisch anmutenden, kräftigen Hinterteil – irgendwo musste der Name Braun ja herkommen - und mit gleichmäßig geschwungenen Lippen. Der Spiegel zeigte ein Mädchen, das, mühsam erkämpft, Minikleider und -röcke in Größe 38 tragen konnte. Irgendein Mann würde sich dafür doch wohl finden lassen, dachte sie. Geduld war allerdings angesagt, denn den ersten Schritt zu tun, das verbot sich für eine anständige junge Frau wie sie von selbst. Oder vielleicht doch nicht ...?

                                                    Weiße Lilien als Brautstrauß? Irgendwann, ein ein paar Jahren ...?

Inzwischen sind Band 2 und Band 3 der Trilogie auf dem Markt - und sehr erfreuliche Rezensionen dazu. Hier findet ihr auf schnellstem Wege zum 1. Band und zur kostenlosen Leseprobe. Viel Spaß beim nostalgischen Eintauchen in eine andere Welt ...!

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

 

Sich den Traum vom eigenen Buch endlich erfüllen

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Die meisten Menschen wollen Spuren hinterlassen und nach ihrem Tod nicht einfach im Nirgendwo vergessen werden. Ich gestehe es: Ich auch.

Es gibt viele Möglichkeiten, in Erinnerung zu bleiben. Als schillernde oder besonders liebevolle Persönlichkeit. Durch tolle Koch- und Backrezepte, die weitervererbt und in Ehren gehalten werden. Durch unsterbliche Geschichten und Anekdoten. "Weißt du noch, wie Tante Alma immer ..." 

Eine gewisse "Unsterblichkeit" erhoffen sich viele durch ein eigenes Buch. Das ist außerdem eines der originellsten Geschenke, die man lieben Menschen als Mitbringsel überreichen kann. Je nach Freundeskreis können es wissenschaftliche Arbeiten, Romane, Gedichte oder Memoiren sein - what ever. Der Traum vom eigenen Buch kann sich über Jahre halten - ich spreche da aus Erfahrung. Vielleicht sogar über Jahrzehnte. Irgendwann ist es Zeit, die Schuld für imer noch nicht veröffentlichte  Arbeiten nicht länger Anderen zu geben - etwa uninteressierten Verlagen oder Agenturen. Sieh hin. Wieviel Anteil hast du selbst? Könnte Aufschieberitis, gespeist aus starken Gefühlen, wie etwa Angst, gehörig mitspielen? Wo sitzen deine Blockaden?

Mir hilft seit einer Weile eine ganz bestimmte Einsicht, die Angst vor dem Versagen, die hinter so mancher Zurückhaltung stecken dürfte, zu überwinden: Ich denke mir die Sache klein. Ein Buch ist in der Regel nichts Heiliges, Gewaltiges. Im Grunde ist ein Buch nicht mehr als eine Ansammlung von Worten. Man beginnt mit dem ersten und endet mit dem letzten. Dazwischen bringt man möglichst viel Spannung und die nötige Logik unter. Und würzt das Ganze mit der eigenen, nicht enden wollenden Begeisterung. So was steckt an ...!

Ich persönlich halte die Wahrscheinlichkeit, als Newcomer bei einem etablierten Verlag unterzukommen, für eher gering - vor allem wenn man, wie ich, schon Silver Ager und nicht berühmt ist. Also bleiben Books on Demand, Selfpublishing über Kindle bei Amazon, als E-Book und zusätzlich als Print-Exemplare, die einzeln auf Anforderung gedruckt und geliefert werden. Oder auch, wenn man seine Autobiografie nur für sich selbst und den engsten Kreis schreibt, als beidseitig bedruckte Kopien aus dem Copy Shop, in Spiralbindung zusammengehalten, mit einem schönen Deckblatt versehen. Wichtig ist: das Ding ist endlich in der Welt!


Träume sind wie Wolken - sie ziehen schnell vorbei. Deine Träume aber kannst du festhalten und dann voranbringen, wenn du dich entscheidest. Du kannst sie verwirklichen, zumindest im Kleinen, was schon etwas Großes sein kann ...

Du träumst ihn noch, den Traum vom eigenen Buch? Erfüll ihn dir. Folge deiner Sehnsucht. Im Kleinen oder im Großen. Schreib dein Buch zu Ende. Mach deine Sache gut, aber versuche erst gar nicht, perfekt zu sein. Sieh es als Experiment. Wie wird es sich anfühlen, dein erstes Buch in Händen zu halten? Schreib es unter Pseudonym, wenn du unsicher bist ob der Qualität und deinen guten Namen nicht ungeübt verbrennen willst. Und freu dich dran: an dem Buch in deinen Händen und an den vielen Ideen für neue Bücher in deinem Kopf.  

Mit Hannah geht es im Laufe des heutigen Tages noch weiter. Gleich ist bei mir erst einmal die Arbeit mit einer sehr lieben Klientin an der Reihe, mit der ich seit einem Jahr mit beiderseitigem Spaß an deren Biografie arbeite - per Telefoninterview. Wegen Corona und weil das für uns beide einfach eine tolle Möglichkeit ist, Lachen inklusive. Also, bis später ... man liest sich.

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

Update April 2022: Inzwischen habe ich zwei Bände meiner Biografie veröffentlicht, Band 3 braucht auch nicht mehr lange. Es ist eine sooo befriedigende Arbeit. Und das Ergebnis beweist: Er lässt sich sehr wohl erfüllen, der Traum vom eigenen Buch. Und es ist ein großes Glück, irgendwann in den eigenen Büchern blättern zu können. Bei mir sind das derzeit Band 1 "Hannah - Das Kind will nicht heiraten ...!" und Band 2 "Hannah - Ohne Mann ist auch echt blöd" der Hannah-Trilogie. Viel Spaß beim Eintauchen in eine entschleunigte Welt.

 


Sonntag, 30. Mai 2021

Hannah: vom ungeliebten Job als Anlernling in die Moderne, zu Coca-Cola

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Nachdem ich mich vorhin in einem wahren Schreibrausch - ihr habt zweifelsohne gemerkt: ich kenne so was - über den Themenbereich Schreibblockade und Schweinehund ausgelassen habe, geht es nun direkt weiter mit Hannah. Die hat sich ja gerade, heulend wie ein Schweine... eh ... Schlosshund beschwert, weil sie nicht länger zwischen Zahlenkolonnen und verstaubten Blattpflanzen in die Lehre gehen will. Und endlich hat sie Mutti rumgekriegt. Die wollte sich daraufhin mal umhören. Mal sehen, ob es was gebracht hat:

 

Eine neue Welt
Nicht nur Mutti, auch der liebe Gott hatte ein Einsehen. Hannah wurde angenommen. Am 1. September 1970, vier Wochen nach ihrem frustrierenden Einstieg beim Ruhrverband, wechselte sie, sehr zur Missbilligung ihrer bisherigen Ausbilder, zur Coca-Cola GmbH. Und sie atmete auf. Potztausend, hier wehte doch, das spürte sie gleich, ein anderer Wind.
Selig, wenn auch reichlich nervös, meldete sie sich um Punkt halb acht am Empfang. Eine Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahren begrüßte sie mit strahlendem Lächeln. „Ich bin selbst noch in der Ausbildung“, verriet sie, „wenn Sie erst in der Telefonzentrale sitzen, haben Sie auch hier Dienst.“ Dann beschrieb sie Hannah den Weg zur Personalabteilung.
Hannah strahlte innerlich, als sie durchs Treppenhaus nach oben ging. Es müsste super sein, demnächst im schicken Pulli an einem aufgeräumten Tresen zu sitzen, Romanhefte zu lesen und auf Besucher zu warten.
Aufgeregt überflog sie wenig später im Personalbüro ihren neuen Ausbildungsplan. Oh, einfach geil! Ooops. Böses Wort! Aber da stand es: Telefonzentrale. Schon in drei Monaten würde sie selbst den Kopfhörer über die Ohren ziehen, freundliche Morgengrüße säuseln und den Fernschreiber bedienen dürfen. Einkauf, Verkauf, auch das klang okay. Nun ja, in die Buchhaltung würde es zwar auch gehen, aber erst ganz zum Schluss.


Mit weit offenen Sinnen sah Hannah sich um. Welch ein Kontrast! Es fiel so wunderbar viel Licht durch die großen, modernen Fenster. Auch ihre innere Welt sah plötzlich viel heller und heiterer aus. Auf allen Fluren standen Kühltruhen, aus denen man sich kostenlos mit Coca-Cola, Fanta, Sprite oder Cappy bedienen konnte. Für Hannah, die daheim hauptsächlich Pfefferminz- oder Hagebuttentee bekam und ab und zu mal billigen Zitronensprudel, schien allein das schon der Himmel zu sein. Ein paar Wassertropfen perlten von den eiskalten, kleinen Glasflaschen ab, wenn man sie herausnahm, und der Inhalt schmeckte einfach bombig süß und erfrischend. Zweimal im Jahr würde sie sogar eine ganze Kiste mit Getränken ihrer Wahl in Literflaschen mit nach Hause nehmen dürfen. Auch das hatte das Fräulein am Empfang gleich erzählt. Harald und Iris würden begeistert sein. Ach, sie merkte schon, es war einfach ein guter Tausch gewesen ...!

    Ein Anruf hatte genügt. Minuten später kam ein freundlicher Mann in den Fünfzigern herein. Halbglatze, leichter Bierbauch. „Das ist Herr Laskowsky von der Abteilung Technische Entwicklung, wo Sie ab jetzt vier Monate lang lernen werden“, sagte der Personalchef. „Er kommt, um Sie abzuholen.“
Mit Herzklopfen folgte Hannah dem Mann quer über den Hof in ein Nebengebäude. Nun ging es also wirklich los.
„Wenn Sie mal gucken möchten, Fräulein Braun“, Herr Laskowsky öffnete eine Tür, „hier arbeiten unsere Computer.“
Raumhohe Geräte blinkten und piepten. Mensch, war das super! Die neue Welt – und sie war mitten drin. Hier würde sie es aushalten können. Schon öffnete Hannahs neuer Ausbilder eine weitere Tür und wies ihr den Weg in ein geräumiges Büro, in dem mehrere Männer arbeiteten, die sie fröhlich begrüßten. Hannah überflog die Szenerie. Keine einzige Frau zu sehen. Schon klar. Technische Entwicklung. Wieder eine Domäne nur für Männer? Ihre Stimmung kippte. Den nächsten langen Atemzug erlebte sie wie in Zeitlupe. Sie wollte einfach nicht einsehen, dass ihr als Mädchen nicht ebenso alle Türen aufstehen sollten. Warum sollte es ihr nicht erlaubt sein, ihre Begabungen zu leben? Was war falsch daran, ein Mädchen zu sein.
„Noch bist du jung“, flüsterte Rosa auf ihrer Schulter. An manchen Tagen fragte Hannah sich inzwischen, ob sie vielleicht schon ein bisschen verrückt geworden sei. Eine rosa Maus mit grünen Punkten auf der Schulter .... ttttzzz! Echt bekloppt. Das konnte ja nur eine Einbildung sehen. Aber sie sah sie immer noch deutlich vor sich, auch wenn das rosa Fell inzwischen blasser geworden und die grünen Punkte fast ganz verschwunden waren. Auch wenn Rosa inzwischen weitaus seltener mit ihr sprach. Aber wenn sie was sagte, konnte Hannah es immer noch ganz deutlich hören, Wort für Wort. So wie jetzt. „Alles ist möglich“, flüsterte Rosa. „Du musst nur ein bisschen mutiger und selbstbewusster werden. Und das übst du jetzt erst mal hier, okay? Du hast in dieser Hinsicht wirklich noch allerhand zu lernen, glaub mir ...!“
„Alles in Ordnung?“, fragte Herr Laskowsky.
Hannah kam zu sich und nickte. Der Mann griff auf ein Sideboard hinter sich. „Bitteschön! Ein kleines Geschenk für Sie, zum Einstand.“ Er überreichte ihr eine Geschenkpackung mit Stoffservietten und Kerzen, dazu einen kleinen Briefbeschwerer aus Gießharz mit eingelassenen Plastikblüten, über den sie sich so sehr freute, dass sie ihn Jahrzehnte später noch immer besitzen würde. "Danke!!" Hannah strahlte.
Und so begann ihre zweite Ausbildung. Gerade einmal vier Wochen lang hatte sie durchgehalten beim Ruhrverband. Wie gut, dass sie es gewagt hatte, aufzumucken. Nun konnte alles nur besser werden ...



                                                                                    Endlich Licht in Sicht ...!

 

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

 

Schreibblockaden loswerden, Schweinehund rauswerfen, Autobiografie schreiben

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

 Wenn du gern schreibst, wirst du das hier kennen:

  1. Du hast eine Idee, die du spontan einfach toll findest.
  2. Du schläfst darüber, findest sie immer noch super und ersinnst ein Projekt.
  3. Du beginnst begeistert zu schreiben und es fließt nur so aus dir heraus. Du bist wie im Fieber. Du vergisst Hunger und Durst und hörst kaum noch, wenn jemand dich anspricht.
  4. Mit jedem Satz rückst du der Überzeugung näher: Wow! Dieses Mal wird das was ...!
  5. Du schreibst weiter, fühlst dich allmählich aber etwas angestrengt.
  6. Du erwischst dich dabei, dass du müde wirst, ein wenig schwächelst. Hier und da scheinen andere Aufgaben wichtiger zu sein und plötzlich ist jede Ablenkung willkommen.
  7. Du beschließt: Heute schreibe ich mal nicht. Das kann ich mir schon leisten. Habe ja schon so und so viele Seiten geschafft ...
  8. Aus dem einen Tag Pause ist unmerklich eine ganze Woche geworden.
  9. Du denkst: Jetzt müsste ich aber wirklich mal wieder ran, doch du kannst dich nicht überwinden und wenn doch, dann will es einfach nicht wieder fließen wie erwünscht und gewohnt. Dieser herrliche Flow bleibt einfach weg. Mist ...!
  10. Du stellst das ganze Projekt in Frage.
  11. Du versuchst, dich zu zwingen und diesen blöden Schweinehund jetzt schleunigst zurück in seine Hütte zu treiben und ihm einen Maulkorb zu verpassen.
  12. Das blöde Vieh bellt trotzdem weiter, wenn auch ein wenig heiser, und stört deine Konzentration. Ausgerechnet dann, wenn du gerade wieder einmal versuchst, die alte Begeisterung wiederzufinden.
  13. Und dann sitzt du auf einmal vor deinem Laptop, starrst auf den Bildschirm und es kommt kein einziges Wort aus dir heraus. Du hast das Gefühl, nie wieder schreiben zu können. Du glaubst, völlig unbegabt zu sein. Du könntest heulen, aber selbst dazu fühlst du dich zu leer ...

 Na, da ist sie ja wieder, die altbekannte Schreibblockade ...! Und nun? 


                             Wenn ein Hindernis wie ein Berg vor einem aufragt ... Nur nicht kirre machen lassen ...!

Mach dich locker. Entspann dich. Schenk der Mauer in dir ein Lächeln. Mit Gewalt geht da gar nix. Gönn dir eine bewusste(!) Auszeit vom Schreiben. Putz die Fenster oder die Schuhe der ganzen Familie und pfeif ein paar Liedchen dabei. Ja, ich weiß, das sind ja gerade die bekannten Ablenkungsstrategien, die dich vom Schreiben abhalten wollen. Aber dieses Mal tust du es ja bewusst - und zeitlich begrenzt. Mach ein bisschen Sport, einen Spaziergang. Nimm ein Bad. Hefte Papiere ab, lies ein Buch, zupfe Unkraut. Meditiere. Tu, was immer dir gut tut, einen Tag lang. 

Am nächsten Tag stellst du deinen Handywecker und schreibst fünf Minuten lang: "Mir fällt nix ein, mir fällt nix ein, mir ..." Huch! Dir fällt doch was ein, vielleicht schon nach vier Minuten? Bestens! Wenn nicht, setz dich vor den leeren Bildschirm, mit Wecker, eine Viertelstunde lang und verbiete dir, auch nur ein einziges Wort zu schreiben. Wetten, dass du plötzlich tausend Ideen hast. Versuche, es auszuhalten, bis die fünfzehn Minuten um sind, und genieße das neu aufglimmende Feuer in dir.

Denk dran, es ist nur eine Schreibblockade. Sie besteht aus vielen kleinen Steinchen, die sich unmerklich aufgebaut haben. Man kann sie abbauen. Entspann dich. Glaub an dich selbst. Erlaube dir die Idee, auch ohne Schreiben ein glückliches Leben führen zu können. Für wen willst du überhaupt schreiben? Für dich oder für andere? Wenn du es dür dich willst: Erinnere dich daran, was dir so gut gefallen hat an deiner ursprünglichen Idee. Findest du sie immer noch gut? Wenn nicht, ersinne eine neue. Dann hatte die Blockade den Sinn, dich mit der Nase darauf zu stoßen, dass der Einfall eben doch nicht so dolle war. Findest du dein Projekt immer noch gut, fang locker wieder an. Regelmäßige Schreibzeiten, die gern ein definiertes Ende haben dürfen, helfen sehr beim Einstieg. Lies  zu Beginn die letzte halbe Seite dessen, was du am Vortag geschrieben hast. Oft wird davon abgeraten, dabei zu korrigieren. Zumindest für Schreibanfänger halte ich diesen Rat für gut und ausgesprochen richtig. Du wirst sonst nie zufrieden sein und kommst einfach nicht weiter. Produziere erst einmal, ungeniert und unzensiert und voller Schaffensfreude. Schaffe den Marmorblock, aus dem du später eine wunderbare Skulptur herausschlagen wirst: dein Buch.

All das, was du gerade gelesen hast, gilt natürlich für jeden Text. Die TeilnehmerInnen meiner Schreibwerkstätten können ein Liedchen davon singen, so oft habe ich ihnen Vergleichbares erzählt. Es gilt auch für dein Herzensprojekt, deine Autobiografie. Es gibt schicksalhafte Gründe, warum du sie schreiben willst. Du hast naturgegeben reichlich Stoff dafür. Dein ganzes bisheriges Leben liegt hinter dir - dir dürfte also immer etwas einfallen. Ein wenig schwierig kann es zunächst sein, den roten Faden zu entdecken, eine Auswahl zu treffen. Aber das ist eine andere Geschichte. Und um mit dem herrlich sympathischen Bömmel aus meinem Lieblingsfilm, der "Feuerzangenbowle", zu sprechen: "Das kriegen mer später ...!"   

Und etwas später geht es auch mit Hannahs Geschichte weiter, versprochen. Habe nur gerade mal wieder über dem Schreiben Essen und Trinken vergessen. Übrigens, was da knurrt, ist mein Magen, nicht der Schweinehund ...!

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

Samstag, 29. Mai 2021

Herzenswunsch für viele Autoren - die Veröffentlichung einer Autobiografie

 Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!                                                             

In seiner Autobiografie "Der Bücherprinz" schreibt der erfolgreiche Verleger Wilhelm Ruprecht Frieling von einem dem Tode geweihten alten Herrn, der ihn zu sich rief, ihm ein Manuskript in die Hand drückte, dazu einen Umschlag mit Bargeld. Über einen Werbeprospekt war er auf Frieling aufmerksam geworden. Nun bat er ihn, unterstützt von seiner Ehefrau, flehentlich, ein Buch aus den von ihm geschriebenen Gedichten zu machen. Frieling war ebenso gerührt wie überrascht. Und er sagte zu. Die ersten Exemplare brachte er ihm so bald wie möglich, bereits ins Krankenhaus. Der Poet starb glücklich. Frieling, in dessen Altbauwohnung sich gerade eine Vielzahl kaum verkäuflicher Kunstbände stapelte, die er neben anderen Werken mit besagtem Prospekt bewarb, hatte eine neue Nische gefunden und warb fortan höchst erfolgreich mit dem Slogan "Verlag sucht Autoren".

Diese kleine Geschichte zeigt nicht nur, wie Verleger erfolgreich sein können. Sie macht auch deutlich, wie groß der Wunsch sein kann, Selbstgeschriebenes zwischen Buchdeckeln an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch wenn es heute weniger spektakulär ist, ein eigenes Buch zu veröffentlichen als früher, so ist es für viele dennoch ein langgehegter Herzenswunsch, ein Traum. Ich kann nur dazu raten, diesen Wunsch zu verfolgen. Schreibt, was der Stift oder die Tastatur her gibt. Sammelt Material, ordnet es, sichtet Tagebücher, schreibt die Szenen, die euch gerade auf der Seele brennen, sortiert, strukturiert, lest neu, verwerft, ergänzt. Whatever. Hauptsache, ihr befasst euch mit der Sache, jagt eurem Traum nach und bleibt dran. Möglichst täglich. Nicht nur, aber erst recht als Silver Ager. Erst einmal geht es nicht um die Veröffentlichung. Die kommt erst zum Schluss. 

                                                    

                                                            ... oder beschrieben, in deiner Autobiografie!

Erst einmal geht es um EUCH, um DICH. Wer schreibt, der bleibt. Das klingt ein bisschen altmodisch. Und doch ist es das, was so viele Menschen sich wünschen, dass etwas von ihnen bleibt. Gerade wenn sie älter oder gar alt werden. So wie der feine alte Herr von weiter oben.

Wer nicht selbst schreiben möchte, nimmt sich einen Ghostwriter. Mich zum Beispiel. Wer keinen Verlag findet (was gut möglich ist) oder auch gar keinen Verlag möchte, wird zum Selfpublisher. Zuschussverlage sind vielfach verpönt, aber auch sie haben ihre Berechtigung. Wer das nötige Geld dazu hat und diesen Weg bevorzugt, der möge es tun. Books on demand ist ebenso eine Möglichkeit wie Amazon Kindle. 

Ich schreibe seit Jahren an meiner Autobiografie. Vor kurzem hatte ich das ungute Gefühl, das Projekt könnte sich zu einer never ending story entwickeln, weil ich insgeheim davor zurückscheute, meine Geschichte tatsächlich an die Öffentlichkeit bringe. Dem schob ich einen Riegel vor, indem ich diesen Blog installierte, mich schon bald über steigende Klickzahlen freuen konnte und kürzlich die Erscheinungstermine für die drei Bände der geplanten Bio-Tri-Logie als E-Books öffentlich festlegte: 1. 7., 1. 9., 1. 11. 2021. Ich freundete mich mit freiwillig festgelegten Abgabeterminen an, mit meiner persönlichen Deadline. So trickse ich mich selbst aus und gehe beherzt gegen aufsteigende Versagensängste an. Und ich kann euch nur sagen: Tut gut. Ist gut. Macht Spaß. - Echt ...!

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

Lebendige Biografien mit Szenen und narrativen Zusammenfassungen gestalten

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Ein Leben ist lang. In der Regel jedenfalls. Wer sein ganzes Leben beschreiben möchte, so wie das bei meiner Autobiografie der Fall ist, kommt ohne narrative Zusammenfassungen nicht aus. Die machen sich allerdings auch in kürzeren Werken gut. Was nicht unwichtig ist, aber so spannend nun auch wieder nicht, wird kurzerhand erzählt, ohne Dialoge oder mit nur kurzen Einsprengseln davon. Dasselbe gilt für das, was der Leserschaft zusammenfassend im Überblick gezeigt werden soll. Die spannenden Begebenheiten dagegen werden in gern dialogreiche Szenen gepackt. So können Leser und Leserinnen hautnah dabei und das Geschehen aus vollen Zügen genießen, um sich en passant ihren eigenen Gefühlen hinzugeben. 

Narrative, also erzählende Zusammenfassungen sind prächtig geeignet, wenn dem Buch etwas mehr Tempo guttun oder wenn es sonst einfach zu lang würde. Sie müssen keinesfalls trocken klingen. Es kann ein kluger Schachzug sein, ein paar Dialogfetzen hineinzupacken, um sie lebendig zu machen. Ich gebe euch ein Beispiel:

Da ich ja in diesem Blog nur Auszüge meiner Bio-Tri-Logie poste, gebrauche ich nun eine narrative Zusammenfassung, um euch schnell ins Bild zu setzen: Hannah hatte die Realschulzeit nach zwei Kurzschuljahren bereits im zarten Alter von fünfzehn Jahren hinter sich gebracht.  Sie wäre schrecklich gern weiter zur Schule gegangen. Doch wie schon nach dem vierten Schuljahr, so sagte ihre Mutter auch jetzt: "Nein, Hannah. Schlag dir das aus dem Kopf. Die Mittlere Reife reicht." Zu allem Überfluss bekam Mutti auch noch Rückendeckung von Herrn Schäfer, Hannahs Klassenlehrer, der allen Ernstes behauptete, Hannah sei einfach zu häufig erkältet. Daher sei die Belastung des Aufbaugymnasiums zu viel für sie. Hannah war tief enttäuscht. Doch weil sie zwar wusste, was sie nicht wollte, aber nicht so recht wusste, was sie wollte, fügte sie sich Muttis klaren Vorstellungen: "Werd Sekretärin. Damit bin ich immer gut gefahren." 

                     Der gerade Weg muss nicht unbedingt der beste sein. Und so muss auch Hannah Umwege gehn ...
 

Der Weg dorthin schien kurz zu sein. Um Sekretärin zu werden, brauchte man keine dreijährige Ausbildung - eine Anlernzeit als Bürogehilfin genügte. Steno und Maschinenschreiben hatte Hannah auf Muttis Geheiß schon mit dreizehn Jahren im örtlichen Stenografenverein gelernt. Ohne besondere Mühe war sie schneller gewesen als die meisten anderen und die Einheitskurzschrift, die bald schon von der noch schnelleren Eilschrift abgelöst wurde, faszinierte sie. Da Lehrlinge selbst ohne diese Fertigkeiten überall händeringend gesucht wurden, war die Auswahl an Ausbildungsbetrieben für Hannah entsprechend groß. Die Wahl fiel schwer. Beim Ruhrverband und Ruhrtalsperrenverein war das Lehrgeld vergleichsweise gut. "Geh doch dahin", schlug Mutti vor, "das ist eine seriöse Einrichtung. Und wenn du gut bist, kannst du die Prüfung zur Bürogehilfin schon nach eineinhalb Jahren machen und nicht erst nach zweien." Bürogehilfin. Wie das schon klang. Wieder einmal sollte etwas reichen für sie als Mädchen. Sie fühlte sich beschämt. Anlernling und Gehilfin, das klang geradezu ehrenrührig, fast nach Hilfsschülerin. Aber es half alles nichts. Ihre Mutter hatte bereits den Vertrag unterschrieben. Hannah dachte nach. Also, wenn ich schon Sekretärin werden soll, dann wenigstens Chefsekretärin. Und so nahm sie sich vor, so schnell wie möglich in einem todschicken Vorzimmer in der Vorstandsetage zu sitzen und für einen gutaussehenden Chef zu arbeiten, der vorzugsweise jung und noch unverheiratet war.

Ende der narrativen Zusammenfassung. Und - seid ihr im Bilde? Prima. Dann kann es ja weitergehen mit Hannahs Geschichte:



Hinter düsteren Mauern 

Am 1. August 1970 begann Hannah, alles andere als glamourös, hinter dicken, düsteren Backsteinmauern ihre Ausbildung. Das schicke Vorzimmerbüro ihrer beruflichen Zukunft vor Augen, war sie wild entschlossen, sie schnellstmöglich hinter sich zu bringen. Schon am ersten Ausbildungstag aber stand für sie fest: Es würde schrecklich werden. Die stillen, dunklen Gänge des Verwaltungsgebäudes mit den unzähligen Türen schüchterten sie ein. Der nüchterne Büroraum mit den hohen Wänden im Erdgeschoss, in dem ihr ein Schreibtisch zugewiesen wurde, deprimierte sie. Er war leer bis auf eine grüne Gummiunterlage, ein Karussell mit Stempeln und ein Telefon. Aber nein, da war noch etwas:
„Schauen Sie mal, dieser Plan zeigt Ihnen auf einen Blick, was noch auf Sie zukommt, Fräulein Braun“, sagte Frau Conrad. Sie war die Frau am Schreibtisch gegenüber, Hannahs Ausbilderin. Fröhlich posaunte sie: „Sie dürfen sogar zweimal zu uns in die Buchhaltung.“
Auch das noch – Hannah hasste Zahlen! Sie las und verharrte dann einen Moment bewegungslos, betrübt auf den Plan starrend. Es war niederschmetternd: Nach drei Monaten in der Buchhaltung würden weitere Abteilungen folgen, die sie inhaltlich nicht die Bohne interessierten und die weitgehend mit Zahlen zu tun hatten. Wie soll ich das nur aushalten? Es war ja jetzt schon tödlich langweilig! Die Bürouhr tickte so laut, als wolle sie Hannah deutlich machen, wie qualvoll langsam hier Sekunden und Minuten vergehen würden, von Tagen ganz zu schweigen.„Was soll ich denn jetzt tun?“, fragte sie.
Frau Conrad, die mit ihren geschätzt fünfunddreißig Jahren uralt war, schwieg, während sie einer geblümten Porzellandose eine anständige Portion Zucker und Zimt entnahm. Damit krönte sie die Sauermilch, die sie soeben in ein großes Glas geschüttet hatte. Sie atmete tief ein, nahm einen großen Schluck und begann dann, mit einer billigen Metallfeile ausgiebig ihre Fingernägel zu feilen.
„Wollen Sie auch mal?", fragte sie. "Ich leih sie Ihnen.“ 

Hannah glaubte, nicht recht gehört zu haben. Gehörte das etwa zur Ausbildung? Und außerdem: Bei ihr daheim wurden Fingernägel geschnitten, nie gefeilt. Doch mit einer gewissen Neugier und weil sie unbedingt etwas zu tun haben wollte, nahm sie die halbstumpfe Feile entgegen, bewegte sie wie wild über ihren Nägelrändern hin und her, feilte zu tief und hatte bald schon eine blutige Stelle am Ansatz eines Nagels. Sie hätte heulen können. Es war aber auch einfach alles, alles blöd hier! Es gab offenbar nichts zu tun. Es gab keine spürbare seelische Verbindung zwischen ihrer Ausbilderin und ihr, kein gegenseitiges Interesse. Hannah fühlte sich absolut fehl am Platze an diesem Schreibtisch. Doch sie würde tun müssen, was die Frau ihr sagte, und es irgendwie aushalten. Aber sah so etwa das Leben aus?


„Kommen Sie mal mit“, sagte Frau Conrad, leerte den Rest aus ihrem Milchglas in einem Zug, wischte sich den Mund ab und stand auf. Dann führte sie Hannah über den düsteren Flur, in dem es nach Bohnerwachs roch, in einen nicht weit entfernten, deutlich größeren, von Neonlampen erhellten Raum. Mehrere Schreib- und Additionsmaschinen ratterten. Die Luft war stickig. Die Gesichter der Menschen grau. „Das ist Fräulein Braun, der neue Anlernling“, sagte Frau Conrad. Die Menschen an den Maschinen guckten nur kurz auf und dann zurück auf ihre Tastaturen. Frau Conrad drückte Hannah eine Liste mit Zahlenkolonnen in die Hand.
„Addieren Sie das mal zusammen. Und dann rechnen Sie nach. Ich komm dann.“ Weg war sie.
Hannah spürte die Blicke der Erwachsenen auf sich ruhen und tippte emsig. Wenn sie schon da war, konnte sie auch fleißig sein. Die Maschine spuckte einen endlos langen Papierstreifen aus. Sie riss ihn heraus, tippte neu und verglich. Mehrfach. Doch jedes Mal kam eine andere Summe heraus. „Mist!“, flüsterte sie. Es war vertrackt. Wenn eine Aufgabe sie anödete, konnte sie sich einfach nicht konzentrieren. Ihre Gedanken waren überall, nur nicht bei diesen verdammten Zahlen.
„Sind Sie noch immer nicht fertig? , fragte ein Mann mit Halbglatze im dunkelgrauen Anzug, der in diesem Büro offenbar etwas zu sagen hatte. „
So geht das aber nicht, Fräulein Braun. So eine Addition ist doch nun wirklich ein Klacks."
„Zahlen liegen mir aber einfach nicht“, jammerte sie. Hannah liebte Buchstaben. Und Worte. Und Geschichten. Auch Bilder. Warum war sie nur zu feige gewesen, um sich anderswo zu bewerben, in einer Werbeagentur zum Beispiel. Kreativ zu sein, tolle Texte und Illustrationen zu entwerfen, das wäre fast so gut gewesen wie ein Studium. Doch sie hatte es ja nicht einmal versucht. Es war doch klar gewesen, dass in solch einer Agentur nur moderne, mutige, junge Leute arbeiteten, schick und sportlich, selbstbewusst und fröhlich. Aber doch nicht eine wie sie ...!
Der Grauangezogene war aufgestanden und kam zu ihr herüber. Reichlich nah. Ob er Zwiebeln zum Frühstück gegessen hatte? „Eine Buchhaltung ohne Zahlen gibt es nun mal nicht“, sagte er streng, nur um begeistert hinzuzufügen: „Ich finde Zahlen wunderbar in ihrer Logik und Unbestechlichkeit.“ Er nahm seine Brille ab, spuckte auf die Gläser und begann, sie mit seinem riesigen Taschentuch zu polieren.
Hannah rückte so weit wie möglich von ihm ab und putzte sich die Nase. Ihr Taschentuch war wesentlich kleiner als seines. Aber es reichte aus, für ein Mädchen.

Die Zeit tropfte wie zäher Schleim durch den Tag. Endlich war Mittagspause. Hannah wagte nicht, sich vorzustellen, dass sie von nun an immer erst am späten Nachmittag in die Freiheit würde zurückkehren dürfen.
„Ich gehe jetzt zu Tisch“, verkündete Frau Conrad. Es war Punkt zwölf. „Kommen Sie mit in die Kantine?“
Kantine. Essen. Das immerhin klang tröstlich. Es erinnerte Hannah an die Butterbrotdose aus Schulzeiten. Und da sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen, folgte sie der Mittdreißigerin und stand bald darauf mit lauter fremden, deutlich älteren Menschen an einem Stehtisch mit Senfglas und Ketchupflasche in der Mitte. Um Trost zu finden, leistete sie sich zu dem Brot, das Mutti ihr mitgegeben hatte, eine kalte Frikadelle. Schwups, weg war sie. Von nun an sah sie alle zwei Minuten auf die Uhr und fühlte sich wie ein Schmetterling in einem Schraubglas. Sie war viel zu schüchtern, um sich an den Gesprächen zu beteiligen und eigene Gedanken zu äußern, und was die Frauen redeten, interessierte sie nicht. Wenn sie dennoch einmal zaghaft lächelte, um nicht völlig unnahbar zu wirken, achtete sie darauf, den Mund nicht zu öffnen. Ihre mittleren Schneidezähne oben standen unschön übereinander, was einfach hässlich aussah. Weil sie das wusste, hatte sie vor dem Spiegel geübt, mit geschlossenem Mund zu lächeln. Das aber sah auch blöd aus. Wie das Grinsen einer Kasperlefigur.
 

Volle achteinhalb Stunden lang eingesperrt zu sein hinter dicken Mauern, flankiert von Regalen mit Leitz-Ordnern und orange blühenden Calla-Pflanzen, die hässlicher kaum hätten sein können, feste Arbeitszeiten durchhalten zu müssen, kurz nicht mehr Herrin ihrer selbst zu sein, all das quälte Hannah über die Maßen. Untätig gelangtweilt oder beschäftigt zu sein mit stets staubtrockener Arbeit, das war auch in den kommenden Tagen wie eine Strafe für sie für nicht begangene Untaten. Der Reiz von Bilanzen, von Soll und Haben erschloss sich ihr nicht. Sie lernte wirklich schrecklich gern, aber doch nicht so etwas ...! Als ihr gegen Ende der ersten Woche klar wurde, dass sie in diesem Unternehmen vermutlich niemals im schicken Kostümchen in einem Vorzimmer mit raumhohem Gummibaum und schallschluckendem Teppichboden sitzen, sondern weiterhin in verstaubten Büros, die einer Amtsstube glichen, vor sich hin vegetieren würde, wollte sie nur noch weg. Sie wusste zwar nicht, wohin, und Mutti würde aus allen Wolken fallen und protestieren, aber in diesem Backsteinknast würde sie eingehen wie eine Rose ohne Licht. Und das war einfach zu viel verlangt. Sie würde mit Mutti reden müssen. Noch am selben Abend. 


Mutti schien unbeeindruckt. „Das wird schon“, sagte sie. „Du musst dich halt erst eingewöhnen. Erinnerst du dich an den Spruch, den ich dir ins Poesiealbum geschrieben habe? Sage nie, das kann ich nicht, vieles kannst du, will’s die Pflicht, darum dich im Schwersten übe ... Also, du schaffst das schon.“
Hannah nickte ebenso ratlos wie ergeben und ging am nächsten Montag wieder hin. Rosa aber, die sich zu Hannahs erstaunter Freude doch wieder einmal in ihr meldete, quengelte und schimpfte so lange, bis Hannah  am Ende der zweiten Woche ernsthaft mit Mutti sprach, entschlossen, sich nicht plattreden zu lassen.
„Na, war‘ schön im Büro?“ Mutti rührte, einen Schlager summend, in der Graupensuppe, die sie für Hannah aufwärmte, und lachte sie über die Schulter hinweg kurz an.
„Nein, Mutti, es war schrecklich. - Es ist jeden Tag schrecklich.“
Mutti fiel der Löffel in den heißen Suppentopf. Fluchend holte sie ihn mit Hilfe einer Gabel wieder heraus. „Aber wieso das denn? Du übertreibst ...“
„Ich übertreibe nicht. Ich hasse es da. Ich will da wieder weg!“
„Aber Kind ...!“ Über Muttis Nasenwurzel entstand eine Falte. „Im Leben geht nun mal nicht alles so, wie man sich das erträumt.“
„Und wieso nicht?!“ Immer diese blöden Sprüche! Hannah, die sich so gern in der Gewalt gehabt hätte, heulte los. „Warum soll das Leben denn nicht schön sein? Es kann doch nicht sein, dass ich jetzt jeden Tag traurig sein soll, nur weil ich nicht mehr zur Schule gehen darf.“ Schniefend zog sie die Nase hoch, suchte vergeblich nach dem Rotzlappen im Ärmelbündchen ihres Kleides, nahm stattdessen den Handrücken und wusste nicht, wohin mit dem Schnodder. Scheiße!! Das dachte Hannah natürlich nur. So was sagte man nicht. Kopfschüttelnd reichte Mutti ihr ihr eigenes Taschentuch, bestickt und aus Batist.
„Du bist fünfzehn, Hannah. Du hast noch alles vor dir. Es wird sich schon richten.“
„Aber ganz bestimmt nicht von alleine!“ So entschlossen hatte sie noch nie mit ihrer Mutter gesprochen. Hannah zwang sich, Muttis Blick standzuhalten.
„Du brauchst Geduld. Morgen versuchst du es wieder. Jeder Tag ist anders.“
„Mach ich nicht!!“ Nun schluchzte Hannah dramatisch. Ganze Sturzbäche von Tränen ergossen sich, ganz, als habe sie allen Kummer ihres jungen Lebens aufgespart für diesen Moment.
„Gut so“, flüsterte Rosa.
Und endlich, wer hätte das gedacht, gab Mutti nach.
„Also gut, wenn es wirklich so schlimm ist ... Also, ich hör mich mal um.“
„Wirklich? Tust du das? - Oh, danke, Mutti ...!“
Hannah war ja so froh. So unendlich erleichtert.


Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth



Freitag, 28. Mai 2021

Ende der Schulzeit - dramaturgisch wichtiger Wendepunkt in der Biografie

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Weiter geht es mit Hannah - wie heute vorm Frühstück versprochen. Es gab frisch geflockten Hafer und Quinoa mit Dinkelmilch, Banane, Kiwi, Granatapfel- und Sonnenblumenkernen und Mandeln. So was kannte Hannahs Mutter gar nicht. Sie aß gern zuckersüß und fettig und bewegte sich wenig. Das allerdings würde sich noch als höchst fatal erweisen. Was zum Glück noch niemand ahnte, als Hannah zum letzten Mal die Aula betrat. Der Schulabschluss war gekommen - ein Wendepunkt in ihrem Leben:

Schulschluss final?
Was für andere vermutlich ein Grund zur Freude war, war für Hannah eher eine Begräbnisfeier: die Abschlussfeier in der Aula ihrer Schule. Flankiert von ihren stolzen Eltern saßen die zu entlassenden Mädchen da, Schülerinnen aus drei Parallelklassen. Das Schulorchester spielte schiefe Töne. Der Schulchor, zu dem sie Hannah nun nicht länger gehörte, sang erbauliche Lieder. Die Lehrerschaft fand feierliche Worte, um die Jugendlichen dem „Ernst des Lebens“ zu übergeben. Jede Schülerin wurde einzeln nach vorn gerufen und erhielt das vierseitige Abschlusszeugnis der „Mittleren Reife“, mit dem Wappen der Stadt vorne drauf.
„Herzlichen Glückwunsch, Hannah“, sagte Herr Schäfer, schenkte ihr ein warmes Lächeln, das sie mit Tränen im Blick erwiderte, drückte ihr die Hand und das Zeugnis in die Hand. Noch im Zurückgehen zu ihrem Platz warf sie einen Blick auf die Noten. In Französisch hatte die Stürmer ihr tatsächlich doch noch eine Zwei gegeben, obwohl Hannah in letzter Zeit faul gewesen war. Welch unerwartete Freude. Keine Vier verunzierte die Urkunde, nicht einmal in Sport. Leider gab es auch dieses Mal keine Eins, nur Zweier und Dreier eben. So gut, wie sie gern gewesen wäre, war sie offenbar doch nicht, obwohl Bärbel lebenslang behaupten würde, der Lernstoff sei ihr nur so zugeflogen. Wie einer Überfliegerin eben, die den Stoff nur zu überfliegen brauchte, um ihn verstehen und behalten zu können. Hier und da hatte das gestimmt, aber längst nicht überall.
Dann war es so weit: Zum letzten Mal überquerte Hannah den Schulhof, auf dem sie so oft einsam auf- und abgeschlendert auf. Den vertrauten Ort, an dem sie in den letzten Jahren Tag für Tag geborgen und vertraut mit Bärbel hatte reden und lachen können. Nun ging sie mit gesenktem Kopf, ihr Zeugnis in der Hand, ihre Eltern neben sich, auf dem Weg zum parkenden Auto, denn Mutti hatte den Fußweg gescheut. Bärbel war nicht an Hannahs Seite. Sie verließ den Schulhof gerade mit ihren Eltern über einen anderen Ausgang – zu Fuß. Eine sportliche Familie eben. 

Hannahs Herz schien als schwerer Klumpen in ihrer Brust zu liegen. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie war ja so unglücklich. So gern war sie zur Schule gegangen. Irgendwo zwischen Herz und Hals gurgelten inzwischen kaum noch zu unterdrückende Schluchzer. Am Ende des Schulhofs traf sie auf ihre Mitschülerin Annika, die sie viel zu hübsch und zu nett fand, als dass sie jemals versucht hätte, näheren Kontakt zu ihr aufzunehmen. Nun aber strahlte Annika sie offen an. „Ach, Hannah!“, rief sie mit ihrer klaren, hellen Stimme. „schön, dich noch zu sehen. Ich wünsch dir alles Gute!!“
„Ich dir auch“, presste sie hervor.
Kaum war Annika außer Sicht- und Hörweite, heulte Hannah los. Sie konnte nicht mehr. Warum nur war sie immer völlig entgeistert, wenn Menschen, die sie nicht näher kannte, nett zu ihr waren? Hielt sie sie selbst wirklich für so wenig liebenswert? Und wenn ja, warum, verflucht?! Und warum ging ihr das mit dem Schulende so nah? Sie hatte die Mittlere Reife geschafft. Das war doch was Gutes. Sie würde nun aufbrechen in eine neue Welt.
Dass sie auch so manche unglückliche Stunde an dieser Schule verbracht hatte, schien in diesem Moment ganz weit weg zu sein. Jetzt kam sie sich vor wie Eva, die Gott zusammen mit Adam aus dem Paradies hatte werfen lassen. Die gewusst hatte: Sie würde niemals zurückkehren dürfen in den Garten Eden.

                                    Für Hannah war der Schulabschluss wie ein Rausschmiss aus dem Garten Eden ...
 

Sie spürte Papas Hand. Mit einer Geste liebevoller Hilflosigkeit strich er ihr übers Haar. „Nun wein doch nicht.“
Mutti hakte sich bei ihr unter. „Kein Grund für Tränen, Hannahlein, glaub mir. Bald verdienst du dein eigenes Geld. Du glaubst ja gar nicht, wie schön das ist ...! Dann hast du die Schule bald vergessen.“
Und Rosa, die Stimme ihrer Kindheit? In letzter Zeit hatte sie sich immer seltener zu Wort gemeldet. Nun schwieg sie. Vielleicht waren freche, rosafarbene Mäuse für heranwachsende Mädchen, die die Schule hinter sich gelassen hatten, einfach nicht mehr zuständig. Und wenn sie nicht wiederkäme, hätte Hannah nun gleich zweimal verloren.

Für Mutti war Hannahs Schulabschluss der Startschuss, um mit Volldampf auf den nächsten Umzug hinzuarbeiten. Zu Hannahs Umschulung war die Familie nach Borbeck gezogen. Ihr Ausbildungsbeginn schien der richtige Zeitpunkt zu sein, sich anderswo niederzulassen. Hannah wusste, dass das Leben in der Donnerstraße für ihre stets kränkelnde Mutter allmählich unerträglich geworden war. Sie ahnte, wie sehr ihre Mutter sich nach mehr Ruhe sehnte - zu Recht. Muttis gesundheitliche Verfassung war ebenso schwach geworden wie ihr Nervenkostüm. Ihr Blutdruck war beängstigend hoch und sie musste täglich Codein einnehmen für ihr schwaches Herz. Dass aber all das Mutti mehr belastete, als ihr Lachen vermuten ließ, dass sie noch in Borbeck zu Papier und Füllfederhalter greifen und vier herzzerreißende Briefe schreiben würde, das würde Hannah erst fünf Jahre später erfahren. Hätte sie etwas anders gemacht, wenn sie es jetzt schon gewusst hätte ...? 



Ein Erfolgsmodell: Die Heldenreise

Keine erfolgreiche Geschichte ohne Wendepunkte. In der Regel gibt es zwei große und viele kleinere Wendepunkte. Der erste große Wendepunkt ist, wie es bei der klassischen Heldenreise in Literatur und Film zigfach angewendet wurde und wird, ein Ruf des Schicksals an Held oder Heldin. Dieser Ruf stößt die Handlung an. Wie es mit der Heldenreise weiter geht, erkläre ich später noch einmal näher. Das Ende der Reise wird dadurch definiert, dass Held oder Heldin die Herausforderung bestanden oder eben dauerhaft nicht bestanden hat. Die erste Lösung = happy end ist häufiger und beliebter. Durch die Entwicklung im Rahmen der Heldenreise jedenfalls hat sich das Leben des Protagonisten, der Protagonistin für immer verändert. 

 

Keine Story ohne Wendepunkte

Nun kann man ja nicht sagen, dass der Schulabschluss Hannahs Leben für immer veränderte. Er war ein zwar bedeutender Wendepunkt, aber nicht der letztlich alles entscheidende. Einer von vielen Wendepunkten im Laufe ihrer Reise, bei der sie herausfinden soll, ob eine Ehe sie so glücklich machen wird, wie ihre Mutter es ihr versprochen hat, oder ob ihre Erfüllung ganz woanders liegt. Braucht die begabte, wissbegierige Hannah einen Mann, um mit Freude durchs Leben zu gehen, oder ist eher das Gegenteil der Fall? Das ist der rote Faden. Das muss sich am Ende des Buches herausgestellt und zu einer Entscheidung oder Einstellung geführt haben, die Hannahs weiteres Leben ganz entscheidend prägt. Was das sein wird, das wird hier natürlich noch nicht verraten. Ebensowenig, wie Hannahs Weg aussieht, welche Erkenntnisse ihr die Augen öffnen und sie für immer verändern werden. Es wird also noch etliche kleine bis mittelgroße Wendepunkte geben, die dafür sorgen, dass die Spannung am Leben erhalten bleibt und der Leser,  eher wohl die Leserin, unbedingt wissen will, wie es weitergeht. So funktioniert es, das Storytelling. 

Für Hannah ist der Schulabschluss wie die Vertreibung aus dem Garten Eden - ein Drama. Zugleich aber ein Schubser ins Leben, in dessen Verlauf Hannahs Kampfgeist sich immer mehr entwickelt. Langsam, aber unaufhaltsam. 

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

Donnerstag, 27. Mai 2021

Fast-Sieg beim Menanthes-Wettbewerb und der Plan mit der Veröffentlichung via Kindle

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Jahrelang hatte ich davon geträumt, eines Tages einen Verlag für meine Bücher zu finden. Doch die Zeit verging, ich war mit anderen Dingen beschäftigt und nicht zielgerichtet genug, nicht ausreichend überzeugt von mir selbst, um begonnene Manuskripte zu Ende zu bringen. Man könnte auch sagen: Ich war zu feige, um mich der Kritik der Verlage oder Agenturen zu stellen oder gar dem quälenden Umstand, dass sie sich gar nicht erst die Mühe machen würden, mir zu antworten. Die Verlagssuche unterblieb, abgesehen von dem halbherzigen Versuch, den ich vor geraumer Zeit dann doch unternahm, um einen Agenten zu finden. Ich suchte ihn oder sie für die biografischen Geschichten zum jeweils gleichen Thema, die eine gute Freundin und ich geschrieben hatten. Die Freundin ist begabt - nicht umsonst hat sie vor Jahren den Wilhelm-Busch-Preis gewonnen. Und die Geschichten sind originell, atmosphärisch dicht, humorvoll, also einfach gut. Andererseits, Rune und ich sind inzwischen beide jenseits der Sechzig. Welcher Verlag, welche Agentur würde sich die Mühe machen, Autorinnen in einem Lebensalter aufzubauen, der denkbare Perspektiven höchstens dann zuließ, wenn man sich die zunehmende Zahl an Hundertjährigen vor Augen führte. By the way: In irgendeinem Ordner muss ich noch den Zeitungsausriss über diese über 90-jährigen Autorin haben, die seinerzeit noch täglich an ihren Romanen schrieb und sie auch regelmäßig veröffentlichte. Ein Vorbild! Wie agil und glücklich diese Frau aussah. Aber Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, die danken einfach anders. Müssen sie wohl. 

Erfreulicherweise bin ich Schreiberin mit Leib und Herz und Seele. Geht nicht, gibt's nicht. Also gebe ich das Schreiben keinesfalls auf. Ganz im Gegenteil: Jetzt, da ich Rentnerin bin, forciere ich es noch. Und ich möchte mehr denn je, dass meine Schreib-Babys an die Öffentlichkeit kommen. Das ist nur natürlich. Was kontinuierlich in einem wächst und mit liebevollen Gedanken und Mühe und Verzicht gepäppelt wird, will irgendwann ans Licht der Welt. 

Ich habe beschlossen, die Sache mit den Verlagen erst einmal zu vergessen. Selbst ist die Frau. Veröffentlichungen als E-Book erschienen und erscheinen mit als geeigneters Mittel der Wahl. Begeistert studierte ich bereits vor einigen Jahren den einschlägigen Ratgeber von Wilhelm Ruprecht Frieling: "Kindle für Autoren oder: Wie veröffentliche ich ein E-Book?" Na bitte, so schwierig schien das doch gar nicht zu sein. Gewusst, wie. Ich beschloss, einen Versuchsballon zu starten. Aber womit? Es gab keinen fertigen Roman, nur ambitionierte Anfänge, die in Schubladen und Ordnern den Gilb ansetzten. Da fiel mir mein Erfolg im Menanthes-Wettbewerb ein. Ich hatte mich bei diesem Literaturwettbewerb mit einem Gedicht und zwei Jahre später  mit einer Kurzgeschichte beworben und war jeweils, bei rund 450 Einsendungen aus diversen Ländern, unter die ersten Fünf gekommen. Bei der dazu gehörigen Lesung auf dem Kirchhof von Wandersleben (wo der galante Dichter und Namensgeber Menanthes einst lebte) vertrat mich meine Freundin Rune, weil ich gerade in Lissabon weilte. Sie bekam viel Applaus für ihre Lesung - und ich damit für meinen Text. Einen Preis aber gab es nicht. Zwei Jahre später war ich selbst zugegen und las vor einem sehr geneigt wirkenden Publikum. Leider gewann ich den Hauptpreis wieder nicht, dafür aber - um Haaresbreite- den Publikumspreis. Mir fehlte eine einzige Stimme  und die hätte ich mir, wie ich erst später erfuhr, sogar selbst geben können. Immerhin: Gedicht und Geschichte erschienen in Anthologien. Das Preisgeld war mir entgangen, der Ruhm war  nur halb, aber ich war um eine wichtige Erfahrung und eine Erkenntnis reicher: Offenbar besaß ich eine gewisse Begabung, erotische Texte, gewürzt mit Humor, zu schreiben, die ankam. Dieses Talent gedachte ich nun, bei einem breiteren Publikum anzubringen. Nicht nur in Wandersleben. Mit meinem ersten E-Book über Kindle. Hui, aufregend!

                                               Auch Büten können erotisch wirken. Alles eine Frage der Fantasie ...!

Zu aufregend ...! Ich hatte nicht den Mut, die neu ersonnene Story unter meinem Realnamen online zu stellen und suchte mir ein wohlklingendes Pseudonym. Nach reiflicher Überlegung entschied ich mich für Suzany deVille. "Wunder, Same, Nacht" nannte ich meine erotische Erzählung, in der der Sohn eines Museumsdirektors die wundersame Nacht zu seinem 18. Geburtstag nicht ohne Hintergedanken im stillen Museum verbringt, das plötzlich alles andere als still ist. Ich bastelte mir ein Cover mit einer mit etwas Fantasie erotisch wirkenden, einladend geöffneten Lilienblüte und beschloss, mich mit 99 Cent Verkaufspreis nicht zufrieden zu geben. Dass das genau der Preis ist, den viele Leser und Leserinnen noch ohne große Überlegung riskieren, weiß ich erst heute. Welches Risiko gehen sie schon ein ... Damals ich verlangte wahrscheinlich ziemlich bescheuernd wirkende 1,14 Euro und schrieb einen hoffentlich einladenden Einladungstext:

"Stellt euch vor, ihr habt einen richtig beknackten Namen, seid fast achtzehn und immer noch Jungfrau! Und wenn ihr dazu noch der einzige Sohn eines verknöcherten Museumsdirektors wäret und von Frauen nicht die Bohne einer Ahnung hättet? Persönliches Pech. Gestatten: Adalbert Traeumer. Mein Vater leitet ein zweitklassiges Museum und ich bin alles andere als ein Womanizer. Weil der Nachname aber irgendwie passte, schob ich die Sache mit den Mädels immer weiter vor mir her und übte mich inzwischen in ganz anderen, wirklich besonderen Fähigkeiten. Dann aber kam Helena in unsere Klasse und ich konnte kaum noch laufen vor Lust. Auch die anderen Jungs waren hin und weg. Sie haben sie angebaggert und ich hatte keine Ahnung, ob Helena es mit ihnen trieb. Dann habe ich alles auf eine Karte gesetzt. Habe sie zu meinem 18. Geburtstag in unser Museum eingeladen. Nachts. Mein Vater hatte versprochen, die Alarmanlage abzuschalten und sich zu verdünnisieren. Und ich, ich hatte schon mal alles vorbereitet. Sie musste nur noch mitspielen …"

Dann wagte ich es tatsächlich, veröffentlichte das Ding und wartete. Ich war voller Hoffnung, wirklich fast so wie vor der Geburt meines erstes Kindes. So viele Menschen würden meine Geschichte lesen können. Der Weg zur Berühmtheit lag im Morgenglanze vor mir ... Doch shit! So gut wie nichts geschah. Vermutlich wurde ich einfach nicht gefunden in den Weiten des Netzes, dachte ich frustriert. Oder es war kein Leser bereit, 1,18 Euro für einen Text von wenigen Seiten zu bezahlen, obwohl vermutlich viele fünf, sechs, sieben Euro für eine Zeitschrift hinzublättern bereit sind, die sie in einer halben Stunde durchblättern. Einige von mir alarmierte Freundinnen taten mir den Gefallen, den Preis zu investieren und mein Werkchen zu lesen. Die Geschichte gefiel ihnen tatsächlich. Sie gaben mir 4 oder 5 Sterne bei Amazon. Aber auch das brachte nicht den gewünschten Erfolg. Und ich würde es niemals einsehen, mit gekauften Stimmen weitere Sterne zu gewinnen. Wie unethisch. Wie unfair. - Ach, Sch...! Grrrrmmmpff! - Ich bedauerte wirklich heftig, nicht ein paar Jahre früher auf den E-Book-Zug aufgesprungen zu sein, als der in Deutschland noch kaum Fahrt aufgenommen und die darin mitreisenden Bücher weit weniger Konkurrenz gehabt hatten.

Inzwischen bin ich, wen wundert's, tatsächlich nicht jünger geworden. Jetzt will mich vermutlich erst recht kein Verlag mehr, es sei denn, die geplante Bio-Tri-grafie-logie, kurze BioTriLogie, wird mit eurer Lesefreude und unschätzbarer Hilfe per Empfehlung der Renner. Oh, was für ein Traum ...! Echte Träume sterben eben nie. Gute Pläne auch nicht. Zum Glück steht ja seit gestern fest: Ich werde Band 1 am 1. Juli 2021 über Amazon Kindle herausbringen. Damit das gelingt, muss ich arg fleißig sein. An allem, was dabei geschieht, werde ich euch hier Anteil nehmen lassen. Ich bin sehr gespannt. Und wild entschlossen, ja überzeugt, es zu schaffen. Und vielleicht finde ich bei Amazon Kindle ja auch die Funktion wieder, mit der ich den Preis ändern kann für Adalbert Traeumers Geschichte. 99 Cent klingt ja so schlecht auch wieder nicht. Ein Drittel davon würden bei mir landen. 33 Cent mal 1 Million Verkäufe, also, das wären ... Nicht auszudenken! ;-)

Wie bitte? Ihr möchtet jetzt endlich wissen, wie es mit Hannah weitergeht? Super. Kommt gleich. Ich stelle nämlich gerade fest, dass mein Magen knurrt, weil ich mal wieder übers Schreiben das Frühstück vergessen habe. Aber gleich dürfte ihr wieder dabei sein bei Hannahs Suche nach Erfüllung, die sie mit so vielen Frauen teilt. - Auch mit dir, oder?

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

 

Autobiografie für Leser interessant gestalten - Show don't tell

      

                                                                                  Ab in die Büsche ...?

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Auch wenn es Erleuchtete gibt, die das sicher anders sehen: Langeweile ist öde. Zumindest hatte ich schon immer Probleme damit. Sechs Wochen Sommerferien ohne viel Programm waren früher die Hölle für mich. Ich brauchte neue Anregungen, Inspiration - von außen. In gewisser Weise galt das auch fürs Liebesleben. Und es gilt fürs Schreiben. "Du sollst nicht langweilen!" 

Um das Autorengesetz No. 1 umsetzen zu können, sollte man unbedingt für eine straffe Handlung sorgen und möglichst alles Überflüssige weglassen. Achtet darauf, vielfältige Sinneswahrnehmungen einzubauen. Wechselt lange und kurze Sätze miteinander ab, direkte mit indirekter Rede, Szenen mit narrativen Zusammenfassungen. Wechselt, wo möglich und sinnvoll, die Perspektive. Baut Ortswechsel ein. Zeigt, was ihr meint, statt es nur zu beschreiben, ganz gemäß einem ebenfalls nicht wegzudenkenden Gesetz, das ihr in jedem Schreibratgeber finden werdet: Show, don't tell. Behauptet also nicht einfach nur, lasst lebhafte Bilder entstehen und Gefühle bei euren Lesern und Leserinnen.

Nun ist ja die Frage, ob ich mich selbst daran halte. Deshalb meine Frage an euch: Seht ihr im folgenden Text Längen? Langweilt ihr euch stellenweise? Bleiben wichtige Fragen offen? Wo würdet ihr straffen, was ergänzen? Könnt ihr mitfühlen? Werden eigene Erinnerungen wach? - Ich freue mich wie immer auf eure Meinung.

In Hannahs Geschichte gibt es wieder einmal einen Sprung. Wie sie als vermeintliches Mauerblümchen for ever in der Kirchendisco tatsächlich auf Lulatsch stieß, das lest ihr ab Juli im Buch. Im Text geht es erst einmal mit einem Ortswechsel weiter. Die Schulabschlussfahrt steht an. Weg von der elterlichen Aufsicht. Ab nach Kopenhagen. Und natürlich reist Hannahs Sehnsucht nach Liebe mal wieder mit:

Liebesleben in Kopenhagen
Zwei Kurzschuljahre hatten dafür gesorgt, dass Bärbel und Hannah schon mit fünfzehn Jahren kurz vor der Mittleren Reife standen. Im Frühsommer 1970 stand das Ziel für ihre Klassenabschlussfahrt endlich fest: Kopenhagen. Meine Güte, es ging ins Ausland! Wie toll! Und schneller als gedacht, waren alle startklar.
In Erinnerung an die beschämende dreitägige Klassenfahrt nach Bad Driburg zwei Jahre zuvor hatte Hannah ihre Reisetasche gut gefüllt. Die Erinnerung an den Spaziergang, bei dem sie im Versuch, ausnahmsweise mal mutig über einen kleinen Bach zu springen, ausgerutscht und im Matsch gelandet war, saß tief. Sie hatte keinen zweiten Rock geschweige denn eine Jeans zum Wechseln dabei gehabt, weil Mutti das für nicht notwendig erachtet hatte und sie überhaupt keine Jeans besaß. Dass ihre Klassenkameradin Birgit Hannah zu ihrer großen Überraschung eine lange Hose angeboten hatte, war zwar ein Riesentrostpflaster gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging sie nicht in Rock oder Kleid. Aber dennoch: So eine Blamage, dieser Sturz! So etwas sollte ihr nicht noch einmal passieren.


Nach Kopenhagen reiste Hannah in eigener Hose. Keine schicke Blue Jeans zwar, auch keine Röhrenhose aus Cord mit Boots dazu, aber immerhin mehr als den blauen Faltenrock von vor zwei Jahren.
In Begleitung von Herr Schäfer und Frau Schröder, der jungen, flotten Referendarin mit der Hochsteckfrisur und der kameradschaftlichen Art, die alle Schülerinnen liebten, saß die 10 b die halbe Nacht hindurch im Zug. Die meisten Mädchen waren aufgekratzt und sprühender Laune. Wie kann man nur so viel reden und lachen, dachte Hannah. Und was die alles aßen ...! Hannah fühlte sich wieder einmal benachteiligt. Der Proviant der anderen erschien ihr viel abwechslungsreicher und verführerischer zu sein als ihr eigener. Mutti hatte gerade einmal zwei Graubrot-Kniften mit Margarine und Teewurst für sie geschmiert, einen Apfel dazugelegt und ein hartgekochtes Ei, das streng roch und so lange gekocht worden war, dass das Eigelb am Rand ganz grün war. Dazu gab es, als seltenes Highlight, ein Päckchen Sunkist, das dank klebriger Süße den Durst leider nicht löschte. Das war’s. „Ihr fahrt über Nacht, da muss man nicht so viel essen“, hatte Mutti gesagt. Dass an Schlafen kaum zu denken war, so im Sitzen und bei all dem aufgedrehten Geschnatter um sie herum, das hatte sie wohl nicht bedacht. 

Hannah sah genauer hin. Die anderen hatten Coca-Cola dabei, herzhaft duftende Frikadellen und kleine Tütchen mit Senf, reife Pfirsiche, aus denen der Saft tropfte, kleine Schälchen mit Kartoffelsalat und Käsewürfel, dazu jede Menge Süßkram und Flips und Chips. Lustlos stopfte Hannah ihr Brot und das Ei in sich hinein, knüllte das Pergamentpapier zusammen, lehnte sich im Sitz zurück und tat so, als würde sie schlafen. Auf Tauchstation zu gehen, erschien ihr wie so oft als gute Strategie.


Als der Zug am frühen Morgen endlich in der dänischen Hauptstadt einlief und Hannah vor lauter Müdigkeit kaum noch ihren Namen kannte, wartete vor dem Bahnhofsgebäude ein Reisebus. „Wir machen jetzt als Erstes eine Stadtrundfahrt“, frohlockte Herr Schäfer, der unterwegs abhandengekommen war, weil er ausgestiegen und nicht schnell genug wieder an Bord der Fähre gewesen war, es aber auf wundersame Weise geschafft hatte, rechtzeitig wieder in Kopenhagen zu sein. Eine Stadtrundfahrt also. Es war, als hätte er gesagt: Freut euch, Kinder, wir schreiben heute eine Mathearbeit! Das Einzige, was Hannah in diesem Moment noch interessierte, war der Schlafsaal der Jugendherberge. Den Erläuterungen aus dem Busfahrer-Mikro folgte sie im Halbschlaf. Ihre Erschöpfung war so groß, dass sie der Verzweiflung nah war. Selbst die von Herrn Schäfer groß angekündigte Überraschung interessierte sie nicht die Bohne: In einem Museumsraum gab es ein blödes, halbkaputtes Boot zu bewundern, das - uralt – vor kurzem irgendwo aus dem Schlamm geholt worden war. Ich will wieder nach Hause, dachte sie. So eine blöde Klassenfahrt! Im Bus dämmerte sie kraftlos vor sich hin, bis die lauter werdende Stimme des Busfahrers sie aufschreckte: „Da drüben ist das Wahrzeichen der Stadt“, rief er, „die kleine Meerjungfrau.“
Was? Wie? Meerjungfrau? Wie hatte Hannah sich darauf gefreut. Eine Nixe, wie sie sie aus Hans Christian Andersens Märchenbuch kannte, war so was von romantisch. Angestrengt starrte sie durch die beschlagene Scheibe. „Wo ist sie denn? Ich seh ja gar nichts.“
„Schon vorbei, du Schlafmütze!“, sagte Bärbel. „Warum schläfst du denn nicht einfach später?“
Weil ich einfach so furchtbar müde bin, dachte Hannah. Blöde Frage! Aber Müdigkeit schien jetzt irgendwie unangebracht zu sein. Die anderen zeigten ihr deutlich: Müdigkeit war höchstens was für alte Leute, nichts für Teenager. Und da nicht einmal Herr Schäfer im Glanze seines weißen Haarkranzes gähnte ...


Irgendwann waren sie endlich angekommen, doch um zu schlafen war es die falsche Tageszeit. Bettenbeziehen war angesagt. Danach erwachte Hannah für kurze Zeit zu neuem Leben. Kaum lag Bärbel, inzwischen selbst kurz vorm Koma, probehalber im Leiterbett über ihr, tat sie etwas für ihre Verhältnisse Unerhörtes: Sie trat mit ihren vergleichsweise langen Beinen von unten gegen das Drahtgeflecht unter Bärbels Matratze, wieder und wieder, und katapultierte so ihre gerade mal fünfzig Kilo schwere Freundin fast unter die Zimmerdecke. Toll! Wer hätte gedacht, dass sie so etwas konnte. Meine Güte, das machte aber auch einen Spaß ...! Einen Moment lang fühlte sie sich unbesiegbar.
 „Hannah!“ Bärbels Stimme klang schrill. „Hör endlich auf!!! Ich fall gleich runter ...!“
Na gut. Hannah gab widerwillig nach. Aber sie hatte ja noch ein As im Ärmel. Mutti hatte erzählt, sie habe einer Klassenkameradin bei ihrer eigenen Abschlussfahrt das Nachthemd zugenäht „Das ist harmlos, aber lustig. Ich gebe dir was mit.“
Bärbel war eingeweiht und bekam eine Nadel und etwas Garn ab. Am Nachmittag schlichen die beiden Mädchen sich in den menschenleeren Schlafsaal und nähten in trauter Eintracht. Hannah hatte ein besonders zartes Etwas in jungfräulichem Weiß erwischt. Wem es gehörte, wusste sie nicht. Und es war toll, etwas Verbotenes zu tun. Und ihre Nähnadel war dick genug für schnelle, gute Arbeit.
Am Abend versuchte Musterschülerin Julia vergeblich, in ihr Nachthemd zu steigen, und stieß, als sie begriff, was geschehen war, einen spitzen Schrei aus. „Oh nein! Das teure Batistnachthemd ...! Wer war das?!“
Hannah zog den Kopf ein, doch sie war mächtig stolz. Sie hatte etwas gewagt, etwas Verbotenes getan und nichts Schlimmes war passiert. Niemand hatte sie erwischt. Schade nur, dass, außer Bärbel, niemand von ihrer Heldentat wissen durfte.

Die Tage vergingen viel zu schnell. Gut, dass sie wenigstens Fotos machen konnte. Hannahs billige Agfa-Kamera im rehbraunen Kunstlederetui war immer mit dabei. Es würde nicht leicht sein, mit 24 Schwarz-Weiß-Aufnahmen und einem Ersatzfilm auszukommen. Auf dem Programm standen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt, darunter dann doch noch einmal die Seejungfrau, ganz aus der Nähe. Was für ein Glück! Hannahs Mitschülerin Marie setzte sich auf einen freien Stein am Strand und sah noch hübscher aus als die bronzene Jungfrau. Alle anderen sind hübscher als ich, dachte Hannah. Die am Kanal gelegene Börse wurde von innen und außen besichtigt. Die Klasse machte einen Ausflug nach Helsingør, wo, auf einer Landzunge am äußersten nordöstlichen Ende der Insel Seeland gelegen, die beeindruckende Festung Schloss Kronborg zu besichtigen war. In der Oper erlebten die Mädchen eine Aufführung des Balletts Schwanensee zur Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, die am fraglichen Abend, wie aufregend!,  auch das dänische Königspaar besuchte. Die Mädchen fuhren mit dem Schiff nach Malmö, was Hannah besonders freute, denn nun konnte sie sich damit brüsten, nicht nur in Dänemark, sondern auch noch in Schweden gewesen zu sein, auch wenn es nur für wenige Stunden war.
All das war interessant, aber am besten war die Zeit, die zur freien Verfügung blieb. Bewaffnet mit einem kleinen Stadtplan und einer Provianttüte aus der Jugendherberge, die Brote enthielten mit undefinierbarem Aufstrich, der herzhaft und zugleich ekelhaft süß schmeckte, eine Kombination, die Hannah Übelkeit bereitete, grasten Hannah und Bärbel die nun schon bekannten Sehenswürdigkeiten ein zweites Mal ab und entdeckten weitere. Am spannendsten war die Wachablösung auf Schloss Amalienborg. Die jungen Soldaten mit ihren schnieken Bärenfellmützen nahmen ihre Aufgabe durchaus ernst. Nur einer von ihnen war zu einem angedeuteten Lächeln zu bewegen, als die Mädchen albern genug vor ihm herumsprangen und ihn knipsten. Seit Hannah nicht mehr ungeküsst war, fand sie alles Männliche noch spannender. Gemeinsam mit Bärbel klapperte sie angeregt die Läden ab auf der Suche nach Souvenirs, ließ sich durch die Straßen treiben, machte weitere Fotos, genoss das ungewohnte Gefühl von Freiheit in einer fremden Stadt und schrieb eine Ansichtskarten an Rainer, mit dem sie seit kurzem ging.

Es war seltsam. Obwohl Hannah nun endlich einen Freund hatte, fühlte sie sich allein in Kopenhagen, ganz so, als würde sie Rainer niemals wiedersehen. Was sie sah, vertiefte dieses Gefühl. Wehmütig beobachtete sie das blühende Liebesleben in der Jugendherberge. Fasziniert beobachtete sie, wie einige Mitschülerinnen dort, ohne lange zu zögern, mit fremden Jungs anbandelten. Carmen zum Beispiel hatte einen exotischen, karamellhäutigen Jungen aus Malaysia, um den Hannah sie glühend beneidete. Birgit bandelte mit einem deutschen Jungen an, der am anderen Ende der Republik lebte. Hannah sah auch andere Mädchen Händchen haltend, sie sah sie knutschend, und hörte, dass einige abends unerlaubt das Gelände verließen und sich sonst wo herumtrieben. Was die sich trauten ...! Mutti hätte sich die Haare gerauft, doch Hannah war neidisch, obwohl doch zu Hause nun Rainer, genannt Lulatsch, auf sie wartete. 

Dann aber bekam sie mit, wie eines der Mädchen sich mit einem Jungen in ein dichtes Gebüsch zurückzog. Was machten die da? Wieso krochen sie in die Büsche, wenn sie knutschen wollte. Ob sie etwa ... Mit einem fast Fremden?! Auf einen Schlag war Hannah ernüchtert. Das wollte sie nicht. Das ging ihr zu weit. Wussten die etwa nicht, dass man als Jungfrau in die Ehe ging, wenn man einen anständigen Mann abbekommen wollte ...?! Dennoch, der Neid, der in ihr nagte, blieb.
Wenig später ergab sich zumindest die Gelegenheit zu einem Flirt. Die Mädchen hatten Freigang und Hannah und Bärbel hatten beschlossen, zum Kanal zu gehen. Sie ließen sich auf einer Bank mit Blick auf die schmucke Börse nieder, um sich die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen, als sich zwei junge Schwarze näherten, groß und schlank. Mit gut geschnittenem Gesicht und großen Augen der eine, mit vernarbten Zügen und eher abstoßend der anderen. Die jungen Männer sagten etwas auf Englisch und zeigten lachend ihre großen, weißen Zähne. Hannah und Bärbel antworteten und Hannah war stolz, nun endlich auch von männlichen Wesen registriert zu werden und darauf, ihre Fremdsprachenkenntnisse endlich einmal außerhalb des Klassenzimmers anwenden zu können. Hannah und Bärbel lachten zurück. Sie seien Studenten, sagten die Männer, aus Ghana. „And you?“ Die Mädchen hatten ja nun nur eine Klassenfahrt vorzuweisen, fühlten sich aber dennoch wie Damen von Welt. Da redeten sie in einer fremden Hauptstadt in einer fremden Sprache mit ansehnlichen jungen Männern, Studenten sogar, die locker schon Anfang zwanzig waren, und die sie ernst zu nehmen schienen. Die sie womöglich sogar attraktiv fanden ...!
Schon saß einer von ihnen auf ihrer rechten, einer auf Bärbels linker Seite. Hannah verbot sich den Gedanken, dass beide Jungs womöglich nur scharf waren auf ihre strohblonde Freundin, in ihrem kurzen Rock und mit dem wimperngetuschten Blick aus großen blauen Augen. Dass sie nicht auch sie meinten, das Mädchen mit dem straßenköterfarbenen feinen Haar, das, fast ungeschminkt, daneben saß. Oder dass nur der Hässliche, der Gezeichnete sich für sie erwärmen würde. Sie genoss einfach die Besonderheit des Augenblicks. Ihre Mitschülerinnen hatten immerhin nur Weiße, Gelbe oder Hellbraune, die sie in die Büsche zerrten. Hannah und Bärbel aber parlierten nun mit fast Rabenschwarzen, geradezu Buschmännern. Wie abenteuerlich. Dann aber kippte die harmlose Stimmung. Mit glitzernden Blicken luden die Männer Hannah und Bärbel auf einen Drink ein. Die Mädchen erschraken. Das ging zu weit. Das schien ihnen zu erwachsen, zu gefährlich zu sein.
„We have to leave now?“, sagte Bärbel. „Our teacher is waiting.“
„Sure“, sagten die Studenten. „Will you be here again tomorrow? Same time?“
„May be“, sagte sie. „We’ll try it.“
Kaum waren die Afrikaner außer Hörweite, tauschten die Mädchen sich aufgedreht über die Begegnung aus. „Sollen wir tatsächlich wieder hingehen?“, fragte Bärbel. „Wir wollen doch gar nix von denen. Wir haben doch unsere Freunde.“
„Macht doch nichts“, sagte Hannah. „Reden darf man doch.“ Sie wollte einfach noch ein bisschen baden in der gespannten Erwartung, die in der Luft gelegen hatte.
Am nächsten Tag, gleich nach dem Mittagessen, gingen sie zum Kanal zurück, um die vermeintliche Verabredung mit den Studenten einzuhalten. Die jungen Männer aber blieben fern und ohne weitere amouröse Abenteuer ging die Klassenfahrt zu Ende. Hannah war nun doch froh, keinen Liebeskummer zu haben. Der Neid war Mitgefühl gewichen. Birgit verbrachte den größten Teil der Rückfahrt weinend, weil sie ihren Traumprinzen vermutlich niemals wiedersehen würde. Auch einige der anderen Mädchen erzählten einander, Melancholie im Blick, von ihren Erfahrungen.

Mutti und Papa holten Hannah am Bahnhof ab, sichtlich erleichtert, sie heil wieder bei sich zu haben. Noch im Auto fragte Mutti Hannah gründlich aus. Doch es gab nichts zu gestehen. Sie war brav gewesen, wie immer. Das würde auch Lulatsch freuen. „Aber nicht, dass du dir einen anderen Jungen angelst in Kopenhagen“, hatte er zum Abschied gesagt. Nein, hatte sie nicht. Und nun freute sie sich auf das Wiedersehen mit ihrem langen, netten Rainer mit den Segelohren und der Himmelfahrtsnase. Wenn auch nicht so richtig. Sie war erst seit wenigen Monaten mit ihm zusammen und hatte doch begonnen, ihn ein bisschen langweilig zu finden. Und das verstand sie, verdammt noch mal, selbst nicht. 

(Auszug aus Hannah - Band 1 "Das Kind will nicht heiraten ...!" - Längst liegt auch Band 2 vor und Band 3 steht - Stand Mai 2022 - kurz vor der Vollendung. :-))

Interessieren könnten euch auch Beiträge in diesem Blog, die sich befassen mit

 Oder guckt doch einfach mal in die Übersicht rechts. Viel Spaß beim Schmökern! Und beim Erinnern ...


Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

Freiwillige Deadline - Abgabeschluss für Jungautoren als Strategie

                                                            Eine Kugel ist perfekt rund, sonst wäre sie keine Kugel. 

                                            Aber in vielen Lebensbereichen ist gut einfach gut genug, auch beim Schreiben.

 

 Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Kennt ihr den Ausdruck Verschlimmbesserung? Man werkelt an etwas herum, um es schöner und besser zu machen, obwohl es doch eigentlich schon ziemlich gut war. Für eine Weile kann das gut sein. Doch irgendwann kommt der Point of no Return und das Ding ist versaut. Wer an einem Aquarell arbeitet, kennt das. Da ist nix mehr mit Drübermalen. Beim Schreiben kann man zwar immer wieder löschen und neu schreiben, aber irgendwann ist die Luft dann einfach raus und man gibt auf. 

Gerade für Jungautoren ist es also wichtig, wenn auch gar nicht so einfach, den richtigen Zeitpunkt zu finden, an dem es gut sein soll mit dem Erstling oder Zweitling. Bei mir ist das nicht anders. Mich mit 66 Jahren noch als Jungautorin zu bezeichnen, klingt fast schon albern. Doch auch wenn ich als Journalistin nun immerhin gut ein Dutzend Jahre Erfahrung vorweisen kann, als Buchautorin bin ich, den vor Jahren geschriebenen Restaurantführer "Gut essen in Essen" mal nicht mitgerechnet, tatsächlich ein Youngster, ein Greenhorn, ein Neuling. Allerdings ein hochmotivierter, jetzt, da ich als Rentnerin richtig Zeit zum Schreiben habe.

Bedenke: Gut ist gut genug. Laut Herrn Pareto und dem nach ihm benannten Prinzip erzielt man mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent Erfolg und würde für die noch fehlenden 20 Prozent auf dem Weg zur Perfektion wiederum 80 Prozent mehr Zeit und Mühe brauchen. Das ist doch nicht mehr verhältnismäßig. Da verwende ich diese Zeit doch lieber für das nächste Werk. Wozu habe ich mehr Schreibideen, als ich in meinem Leben wohl noch werde umsetzen können. Weniger ist mehr. Da ich mich in der Fülle meiner Ideen nicht einschränken möchte, mache ich Abstriche in Sachen Perfektion. Gut ist gut genug. Eine gute Strategie, wie ich finde. Eine weise Strategie. 

Und nun kommt's: Heute habe ich beschlossen, meine Autobiografie, an der ich seit Jahren arbeite und die tatsächlich beim Überarbeiten und Umstrukturieren immer ein bisschen besser wurde, nun auf die Zielgerade zu bringen. Erst einmal Band 1 der geplanten Bio-Trilogie, von der ihr hier das Vergnügen habt, schon einmal wichtige Auszüge zu lesen. Hiermit setze ich mir, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und ihr seid meine Zeugen, eine freiwillige Deadline zur Herausgabe des E-Books. Auch ohne an einen Verlag gebunden zu sein, definiere ich nun einen verbindlichen Abgabeschluss. Fehlt noch ein konkretes Datum.

Die meisten Bücher kommen im Frühjahr und im Herbst heraus, aber als Selfpublisher ist man ja auch da viel freier.  Mal kurz tief durchschnaufen. Und schon verspreche ich euch und mir hoch und heilig: Am 1. Juli 2021 geht Band 1 online. Die Bände 2 und 3 werden im Zweimonatsabstand folgen, also am 1. September und am 1. November. Huch! Da flattert mir ja ein wenig der Magen. Kann ich das jetzt wirklich zusagen? Versprechen muss man halten, sonst glaubt einem keiner mehr was. Grübel, grübel ... Doch! Ich mache das. Wenn ich  mich in Sachen Technik nicht ganz blöde anstelle, werden die drei Bände am

  • 1. 7. 2021
  • 1. 9. 2021
  • 1. 11. 2021 
online sein. Großes Indianerinnen-Ehrenwort ...! Oh wow! Ist das aufregend ...! Es gibt kein Zurück mehr. Ich muss jetzt richtig ran. Meine Geschichte will raus ans Licht der Welt. Und ja, ich will auch. Schluss mit den Ausreden. Schluss mit dem Verschlimmbessern, das kein Ende nimmt. Hach. Gutes Gefühl ...!

Und du? Ist das auch was für den Erstling, an dem du gerade arbeitest? Du musst es ja nicht unbedingt öffentlich machen. Aber dir selbst, Partner oder Partnerin, Freund oder Freundin, den Kolleginnen oder wem auch immer könntest, ja solltest du es versprechen: Dann und dann dürft ihr mein erstes Buch lesen. Versprochen. Wetten, dass das was mit euch macht?! Was Gutes. Ich drück euch die Daumen ...!

Und wie es mit Mauerblümchens Liebesleben weitergeht, das lest ihr noch heute im nächsten Blogtext.

 

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

Mittwoch, 26. Mai 2021

Begabungen leben - Existenzgründung als Schreiberin

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Begabungen werden uns mitgegeben. Wir brauchen nichts dazu tun - sie sind einfach da. Blöd nur, wenn man sie nicht nutzt. Nicht bewusst wahrnimmt. Bei mir war das so. Über viele Jahre habe ich nicht genug von mir gehalten, um das aus meinem Leben zu machen, was mir wirklich entsprach. Ich kannte mich selbst zu wenig. Ich nahm mich nicht ernst genug. Die entscheidende Wende kam, als mir in der ergotherapeutischen Praxis, der ich damals angehörte, bei einer Teamsitzung die Hutschnur riss. Ich fühlte mich von meiner Chefin absolut unfair behandelt und warf ihr sozusagen die Klamotten vor die Füße. Es reichte mir, so still und geduldig ich auch sein konnte. "Wollen Sie mir kündigen oder soll ich kündigen?", fragte ich, aus einem Impuls heraus, ohne nachzudenken. Die Reaktion der Chefin war wenig amused und wie ich die Teamsitzung zu Ende brachte, ohne loszuheulen, weiß ich nicht mehr so recht. Ich fühlte mich hochgradig gestresst, bewahrte aber nach außen hin die Ruhe. Zum Glück hatte ich an diesem Tag keine Patiententermine mehr und war nur wegen der wöchentlichen Sitzung zur Arbeit erschienen. Erstaunt, ja fast entsetzt über mich selbst und zugleich erfüllt von ungewisser Vorfreude setzte ich mich ins Auto und fuhr los. Was würde mein Mann bloß sagen? Wie würde es beruflich mit mir weitergehen? Ich war doch wahrhaftig keine zwanzig mehr ...! An der nächsten roten Ampel zitterten meine Knie derart, dass ich die Füße kaum ruhig genug auf Kupplung und Bremspedal halten konnte. Und doch spürte ich: Du machst das genau richtig, meine Liebe! Die Zeit ist gekommen. Du musst endlich tun, was dir selbst entspricht. Das Leben wartet nicht.

Am nächsten Tag saß ich im Sprechzimmer meines Hausarztes, der mich Sensibelchen gut kannte und mich erst einmal krankschrieb. Wenig später flatterte mir die fristlose Kündigung ins Haus. Zehn Tage später saß ich der Beraterin der Arbeitsagentur gegenüber und schilderte ihr, was geschehen war. Ich hatte Glück. Obwohl ich meine Kündigung selbst provoziert hatte, hatte sie Verständnis und sperrte mich nicht. Ich würde Arbeitslosengeld bekommen und erhielt die Weisung, mich um einen neuen Job zu bemühen - was ich mehr als halbherzig tat. Die Ergotherapie war einfach nichts für mich, ebenso wenig wie mein erster Beruf als Sekretärin es gewesen war, in den mich meinen Mutter gedrängt hatte. Die Konfrontation mit häufig schwer kranken Menschen im 30- oder 45-Minuten-Takt überforderte mich auf der einen und unterforderte mich auf der anderen Seite. Ich brauchte etwas Schöngeistiges, etwas Künstlerisches, etwas ganz Eigenes. 

Zu meiner großen Freude dauerte es nicht lang, bis die Beraterin mir anbot, ein zweiwöchiges Existenzgründerseminar zu besuchen.  Aufgeregt nahm ich die Einladung an. Das schien genau in die richtige Richtung zu gehen. Am nächsten Montag ging es los. Was für eine Erfahrung! Endlich durfte ich wieder die Schulbank drücken, etwas Neues lernen. Begeistert erlebte ich einen vielfältigen Unterricht, der Chancen statt Begrenzungen lehrte und mir Mut machte. Als Nächstes ging ich zur Organisation Frau & Beruf, um mir konkrete Unterstützung und Tipps zu holen. Die Beraterin war äußerst freundlich und zugewandt, doch ihr Resümee war ernüchternd: "Sie wollen schreiben und Kurse geben? Na ja, versuchen Sie es halt. Aber mehr als ein Taschengeld werden sie nicht damit verdienen, das sage ich Ihnen gleich." Wie sehr sie sich doch täuschte ...

Wie es mit mir als künftige Autorin weiterging, erfahrt ihr morgen. Wie es mit Hannah weiterging, erfahrt ihr jetzt: 

Krypta-Tanz und Damenwahl
Der Abend, dem Hannah entgegengefiebert hatte, war endlich gekommen. Das Wummern der Bässe dröhnte ihr und Bärbel schon von weitem entgegen. Die Eingangstür der Krypta stand offen. Das Kellergewölbe unter der ehrwürdigen St.-Paulus-Kirche war in schummeriges Licht getaucht und mit abgenutzten Tischen und Stühlen möbliert. Ein Typ am Eingang drückte den Mädchen einen Stempel als Eintrittskarte auf die Hand. Nervös trat Hannah ein und blickte sich um. Eine mit winzigen Spiegeln besetzte Kugel drehte sich an der Decke und verwandelte das Licht der roten und gelben Scheinwerfer in Hunderte bunter Flecken, die durch den Raum geisterten. In den Aschenbechern qualmten die Zigaretten. Der Anblick im Halbdunkel wogender Gesichter und Körper faszinierte sie und machte ihr zugleich Angst. Aus den Lautsprechern dröhnte Black magic woman von Santana. Doch was gefühlt noch heftiger dröhnte, das war der Schlag ihres Herzens.


"Da vorn ist ein freier Tisch", sagte Bärbel. Die Musik im Raum war so laut, dass man einander direkt ins Ohr rufen musste, um sich zu verständigen. Was für eine aufregende neue Welt! Hannah hatte schweißnasse Hände. Sie war unsicher und doch voller Hoffnung. Daheim hatte sie den Spiegel befragt und sich so hässlich auch wieder nicht gefunden. Vielleicht würde sich unter all diesen Jungen hier doch einer für sie interessieren. Alles in ihr vibrierte ...!
Bärbel saß noch nicht ganz, da wurde sie auch schon aufgefordert. Von da an war sie fast ständig auf der Tanzfläche. Hannah verstand das durchaus. Bärbel war hübsch, sie war zierlich, sie war blond. Sie selbst aber saß auf ihrem Stuhl herum, als habe jemand die Sitzfläche mit Pattex bestrichen. Niemand erbarmte sich ihrer und forderte sie auf. Wieso nicht auch mich?!, dachte sie zunehmend verzweifelt und desillusioniert. War sie etwa doch hässlich? Hatte sie eine Riesenwarze auf der Nase? Trug sie ein Schild „Achtung, bissig!“ um den Hals?

                                            In aller Unschuld und voller Sehnsucht nach Liebe ...

Mauerblümchen. Das Wort schien in Flammenschrift an der Wand zu stehen. Da wartete der Diskjockey mit einer Chance auf. „Damenwahl ...!!“, rief er und sah erwartungsfroh in die Runde.
Hannahs Kopf wurde, das wusste sie auch ohne Spiegel, tomatenrot. Während sie noch ihre Angst zu zügeln suchte, stürzten sich die selbstbewussten, nach Muttis Einschätzung sicher eher leichtlebigen Mädchen in Nullkommanix auf die langhaarigen Knaben, die, Desinteresse heuchelnd, auf ihren Stühlen herumlungerten. Die mit den Goldkettchen im Hemdausschnitt gefielen Hannah am besten, auch wenn sie Muttis mahnende Stimme in sich hörte: „So sieht ein Gigolo aus. Ein anständiger junger Mann wirkt seriös.“. Dass sie genau diese abenteuerlich wirkenden Typen sexy fand, wäre Hannah damals noch nicht in den Sinn gekommen. Das Wort gehörte nicht zu ihrem Wortschatz. Dass sie im Ernstfall wohl keinen von ihnen hätte heiraten wollen, bedachte sie ebenso wenig. Sie war nur im Moment. Genau jetzt wäre ihre Chance gewesen, mit einem von ihnen zu tanzen, aber ... Die Paare tanzten längst und Hannah saß noch immer da, zaudernd und untätig. Sie ließ die Blicke schweifen und auf die wenigen fallen, die übrig geblieben waren. Sollte sie vielleicht einen von ihnen ...? Wer weiß, vielleicht hatten sie ja innere Werte ...

Vorbei! Die letzten Töne verklangen und der Discjockey gab die Jagd wieder frei für das männliche Geschlecht. Same procedure ... Mädchen saßen wartend. Jungen kamen oder auch nicht. Als sei nichts selbstverständlicher, suchten sich die Schönlinge die hübschesten Mädchen aus, schwangen rhythmisch die Hüften oder tanzten engumschlungen, den Angebeteten Worte ins Ohr flüsternd, von denen Hannah annahm, dass sie sehr romantisch sein müssten.
Zu Tode betrübt sah sie über den Rand ihres Colaglases hinweg, dessen Inhalt von den sich auflösenden Eiswürfeln verwässert wurde, auf die jungen Menschen um sich herum. Bärbel tanzte wieder einmal mit einem Tanzpartner, der Hannah nur bis zur Nase gereicht hätte. Warum war sie auch nur so groß? Schon 1,68 m und vermutlich war das Ende der Fahnenstange noch gar nicht erreicht. Sie fühlte sich blöd und kämpfte zunehmend mit der Schwerkraft ihrer Mundwinkel, bis ihr Lächeln so eingefroren war, dass sie beinahe einen Krampf im Gesicht bekam.
Dann veränderte sich das Licht. „Und hier kommt für euch Peter Maffay mit Du!“, schmachtete der Diskjockey ins Mikro. Oh nein! Auch das noch. Da saß sie unbeachtet auf ihrem Holzstuhl, den Mund voller Ergriffenheit und Sehnsucht leicht geöffnet, den Blick auf die Tanzenden gerichtet, und der rumänische Muttermal-Peter berührte die Tiefen ihrer Seele. Sie wünschte sich so sehr, er sänge nur für sie. Sie lauschte ergriffen und wiegte sich in Gedanken in seinen Armen. „Du bist alles, was ich habe auf der Welt“ röhrte er, „du bist alles, was ich bi-hi-hin ...!“ Seine so ehrlich klingende Stimme jagte ihr Schauer über den Körper und sie war überzeugt, dass gerade sie in Wirklichkeit die Eine war, die ihn verstehen würde, so wie das Lied es wollte. Bis ihr in einem lichten Moment und allzu bald klar wurde, dass Peter Maffay als Schlagerstar für sie völlig unerreichbar war. Schmachtend beobachtete sie streichelnde Jungenhände auf Mädchenrücken und Mädchenhintern, erahnte kreisende Zungen und wünschte sich so sehr, dasselbe zu erleben. Es musste ja gar nicht Peter Maffay sein ...!
Da geschah ein Wunder: Ein Junge kam offensichtlich genau auf sie zu. Ob er wohl schielte? Sie sah näher hin. Der dickliche Typ mit den maisgelben Haaren gefiel ihr so gar nicht. Sei’s drum. Viel wichtiger war doch, dass überhaupt einer auf sie zukam. Sie setzte ein freundliches Gesicht auf. Er stieß das Kinn in ihre Richtung und sie nahm an, dass das eine Aufforderung sein sollte. Allzu dankbar sprang sie auf. Es war ja gar nicht wichtig, ob er ihr gefiel. Hauptsache, sie musste nicht länger hier rum sitzen. Der Junge aber erblasste und Gedankenlesen war plötzlich ganz einfach: Verdammt, die ist ja viel größer als sie!!! Und schneller als gedacht, saß Hannah frustriert wieder an ihrem Platz – und der Junge an seinem.
Erst kurz bevor sie nach Hause musste, forderte sie ein zweiter Junge auf. Hannahs Hirn war leer vor Enttäuschung. Sie konnte nicht mehr lachen, nett oder charmant sein. Wortlos hopste sie zu Showaddywaddy’s "Under the moon of love" herum. Kein Funke sprang über. Und schon nach diesem einen Titel saß sie wieder auf der Blümchen-Mauer. Nix moon, nix love. Sie war nicht einmal fünfzehn, doch es schien klar zu sein: Wenn das so weiterging, würde sie unweigerlich eine alte Jungfrau werden.


(Auszug aus Band 1 "Hannah - Das Kind will nicht heiraten ...!"

Update ein Jahr später: Band 3 ist fast fertig. Und hier geht es zu Band 2 "Hannah - Ohne Mann ist auch echt blöd") . Viel Spaß beim Eintauchen in die ganz persönliche Welt einer Frau, die einfach nicht sein will wie andere.

Bis bald sagt eure

 Sigrid Ruth

Die Hannah-Trilogie wird fortgesetzt - Hannah & der kleine Camper Oddi

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge! Die Zeit bleibt nicht stehen. - Es gibt Neues von Hannah. Noch immer ist sie mit Gabriel zusa...