Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!
"Männer kommen und gehen, beste Freundinnen bleiben." Dieser Spruch stand auf einem überaus praktischen, zusammenfaltbaren Einkaufsbeutel, den mir meine alte Freundin Roswitha vor einigen Jahren schickte. Sie tat es als liebevolle Geste, nachdem der dritte und interessanteste meiner Ehemänner beschlossen hatte, nicht länger an meiner Seite zu verweilen. Roswitha hatte ich als Siebzehnjährige kennengelernt. Nun, rund vierzig Jahre später, waren wir immer noch gute Freundinnen, auch wenn wir einander selten sahen.
Noch länger als Roswitha kenne ich Bärbel. Als wir einander zum erstenmal sahen und geradezu miteinander verkuppelt wurden, waren wir beide dreizehn. Um genau zu sein, war sie dreizehn Tage älter als ich. Für mich war die Dreizehn damals noch die traditionelle Unglückszahl. An jedem Freitag, dem Dreizehnten, verspürte ich ein gewisses Grummeln im Magen, das erst am Abend verschwand, wenn ich auch diesen Unglückstag wieder glücklich und unbeschadet überstanden hatte. Was Bärbel betrifft, so ist die Dreizehn unzweifelhaft eine Glückszahl. Sie wurde die Patentante meines Erstgeborenen, wie ich es ihr schon als Jugendliche versprochen hatte. Sie ist wie eine Schwester für mich und wir begleiten einander nun seit über 50 Jahren durchs Leben. Inzwischen liegen rund 400 Kilometer zwischen uns, neuerdings auch noch Corona. Aber das schadet nicht wirklich. Innere Nähe und Verbundenheit bleiben. Bärbel ist wichtig in meinem Leben. Und so gebührt ihr in meiner Biografie ein Ehrenplatz, ein eigenes Kapitel.
Das Thema Persönlichkeitsrecht ist in ihrem Fall kein Problem. Sie vertraut mir. Sie hat mir erlaubt, ihren echten Namen zu verwenden. Bei ihr brauche ich nichts zu verfremden. Doch bevor ihr erfahrt, wie Bärbel in mein Leben kam und was Herr Schäfer, unser gütiger Klassenlehrer, mit der Sache zu tun hatte, solltet ihr verstehen können, wie dringend ich ein Mädchen wie sie brauchte. Zu einer Zeit, zu der ich mich eigentlich viel zu wertlos zu fühlte für eine echte Freundin. Zu der es so unendlich schwierig erschien, mich selbst gut zu finden. An manchen Tagen fühlte ich mich wie ein stacheliger Kaktus, der sich nicht einmal selbst umarmen mag:
Katharina und Kino-Karin
Gegensätze ziehen sich an und gleich und gleich gesellt sich gern. Um sich für eine beste Freundin entscheiden zu können, sollte am besten beides zutreffen. Bei der Anderen findet man das, was einem selbst fehlt. Man entdeckt gemeinsame Werte, die lebenslang bleiben. Auf eine solche Freundin wartete Hannah, ohne es auf diese Weise ausdrücken zu können, schon verdammt lange. Die rothaarige Ulla in der Volksschule war eine Notlösung für sie gewesen, ein Mittel gegen die totale Einsamkeit auf dem Schulhof, mehr nicht. Die Freundinnen in der Wiesenstraße waren Spielgefährtinnen gewesen, die nun einmal da waren, weil sie in der Nachbarschaft wohnten, die ihre Seele aber nicht oder nur in seltenen, stillen Momenten erreichten. Auch an der Realschule hatte sich noch immer niemand gefunden, der ihr Herz berührte. Das tat weh. Das fühlte sich leer an. Etwas Entscheidendes fehlte.
Hannah sah keine Möglichkeit, das zu ändern. Sie war viel zu schüchtern und fand sich kaum liebenswert genug, einer allerbesten Freundin würdig zu sein. So wurde sie zunehmend traurig und immer stiller. In ihrer Einsamkeit war sie sehr geneigt, sich wieder mehr dem Essen zuzuwenden, doch selbst das war ein Problem. Ihr Taschengeld reichte nicht aus, um während der Pause in der Schulkantine oder an der kleinen Bude außerhalb regelmäßig leckere Trösterchen, wie Hanuta, Kokosschokolade oder Prinzenrolle, kaufen zu können. So schlenderte sie in den Pausen, ihr langweiliges Brot mümmelnd, über den Schulhof, sah wie üblich den Anderen zu, wagte nur hier und da eine schüchterne Bemerkung, viel zu leise und scheu gemacht, um Resonanz zu finden und blieb allein. Irgendwann aber reichte es ihr. Es wurde ihr zu bunt mit der Tristesse. So begann sie, ihre Abgeschiedenheit mit einer weiteren Außenseiterin zu teilen.
Ihre Wahl war auf Katharina gefallen, ein ruhiges, freundliches Bergarbeiterkind. Katharina hatte ein flächiges Gesicht und braune Locken, die ihre Mutter regelmäßig in Kinnhöhe Marke Kapottschnitt kappte. Ihre Stimme war leise und sanft. Streiten konnte man sich nicht mit ihr. Eher hätte man sich zu Tode mit ihr langweilen können. Immerhin, Katharina war keine Gefahr für Hannah das spürte sie. Sie würden einander nicht weh tun. So führten die beiden Mädchen auf dem Schulhof eher einsilbige Gespräche, bei denen sie mehr auf ihre Schuhspitzen sahen als einander in die Augen. Als Gefährtin war Katharina ebenso wie Ulla noch schüchterner als sie, was Hannahs Selbstbewusstsein in gewisser Weise guttat. Nach einer Weile begann sie, Katharina, die sich nicht zu ihr nach Hause traute, in deren Zimmerchen unterm Dach in einem der düsteren kleinen Reihenhäuser in Bergeborbeck zu besuchen, gleich gegenüber der Zeche. Im Halbdunkel der Küche servierte Katharinas Mutter selbstgebackenen Stachel- oder Erdbeerkuchen, mit Beeren aus dem schmalen Garten, der sich an das graue Haus anschloss. Im Dachzimmerchen zeigte Katharina Hannah mit schüchternem Augenaufschlag den schon fast vollständigen Bravo-Starschnitts ihres dackelblickigen Lieblingssängers Roy Black und weitere Poster an der Zimmerwand. Immer wieder spielten die Mädchen die beiden Singles ab, die Katharina von ihrem Idol besaß, und bei „Ganz in Weiß“ wurde Hannah jedes Mal ganz anders.
Roy‘s Schmusestimme machte etwas mit ihr. Da war so ein seltsames Gefühl in ihrer Brust und in ihrem Magen. Alles zog sich zusammen. Zum einen stellte sie es sich furchtbar romantisch vor, ganz in Weiß, mit einem Strauß roter Rosen im Arm, an der Seite eines so schönen Mannes, wie dieser Roy mit dem dunklen Haar, dem Grübchen im Kinn und dem strahlendem Blick es war, vor den Traualtar zu treten. Andererseits würde sie noch immer und trotz allem viel lieber zum Gymnasium gehen und danach studieren, Möglichkeiten nutzen, deren Vorhandensein sie wie hinter einer Nebelwand zwar spürte, die sie aber nicht benennen und konkret sehen konnte. Geisterwesen in den verborgenen Windungen ihres Seins.
„Wenn ich einmal heirate“, sagte Katharina bei jedem Besuch, „dann nur Roy Black“. Dann lächelte sie versonnen und ihr Blick richtete sich in eine Ferne, in der nur sie etwas sah.
Dass Katharina Roy Black heiraten würde, hielt Hannah für mindestens ebenso unwahrscheinlich wie die Vision, dass jemand, der ihr wirklich gefiel, sie selbst heiraten würde heiraten wollen. Wahrscheinlich würde sie froh sein können, wenn sich überhaupt jemand fände. Und weil das so war und obwohl Mutti steif und fest behauptete, dass sie eines Tages einen netten Mann heiraten würde, konzentrierte sie sich einstweilen auf die Schule. So gut es ging, unterdrückte sie jede Regung, die der Sehnsucht nach einem Jungen an ihrer Seite hätte Nahrung geben können. Kunst und Französisch mochte sie mehr denn je. Sie ließ sich das j in „je“ oder „Bon jour“, das g in „collage“ oder „marriage“ auf der Zunge zergehen. In den Accent Circonflex, der, geformt wie ein kleines Hausdach, das eine oder andere „e“ krönte, war sie geradezu verliebt. Sie malte und bastelte in der Schule ebenso gern wie in ihrer Freizeit. Mit Inbrunst schob sie Pailletten und Röhrchen aus Gold- oder Silberfolie über Stecknadeln und verankerte sie in Styroporkugeln. Mit Begeisterung zeichnete und malte sie Szenerien, die ihre Fantasie ihr eingab. Die Hausaufgaben machte sie eher nebenbei. Sprachen flogen ihr zu. Bei Mathe und Physik musste Papa abends oder am Wochenende helfen, was er auch hinbekam. Dass er selbst nur die Volksschule besucht hatte, änderte ja nichts an seiner Intelligenz und an seiner angeborenen Ruhe und Geduld, die sich pädagogisch als wertvoll erwies. Das war wichtig, denn sonderlich geduldig war Hannah nicht.
Papas Nachhilfe war von Erfolg gekrönt. Bald hatte Hannah sich einen Platz unter den fünf oder sechs besten Schülerinnen der Klasse erobert. Sie konnte zwar nicht eine einzige Eins in ihren Zeugnissen vorweisen, aber auch keine Fünf oder gar Sechs. Die einzige Vier gab es in Sport. Hannahs Ehrgeiz genügte es zwar nicht, dass sie nicht wenigstens zu den besten Drei zählte, doch es entsprach ihren Kräften und Interessen. Sie war schnell müde, schlapp und seelisch überfordert. Ihr Geist war wacher als ihr Körper und stabiler als ihre Seele. Aber er war auch wählerisch. Sie hatte einfach keine Lust, alles zu lernen, was ihr vorgesetzt wurde. Sie träumte davon, das zu tun und zu lernen und auszuprobieren, was zu ihr passte. Wenn sie doch nur genauer gewusst hätte, was das sein könnte ...!
Parallel zu Katharina freundete sie sich irgendwann mit Karin aus der Parallelklasse an. Deren Eltern besaßen in Borbeck ein Kino, was Hannah sehr exotisch fand. Und was sie kaum zu hoffen gewagt hatte, geschah: Karin lud sie nicht nur zu sich nach Hause ein in die Altbauwohnung gleich über dem Kino, wo die beiden Mädchen auf der großen Dachterrasse mit Karins Schildkröte spielten und Hannah fasziniert beobachtete, wie ein gelbgrünes Salatblatt in dem uralt und zahnlos wirkenden Gesicht der Kröte verschwand. Sie lud sie auch zu Filmen ein, die jugendfrei waren. Seite und Seite fieberten die beiden Mädchen dann mit den Gestalten auf der Leinwand und kühlten ihre Emotionen, indem sie je eine ganze Packung Eiskonfekt verspeisten, von Karins Mutter spendiert. Welch ungewohnter Luxus ...! Für Hannah waren das Sternstunden. Beglückt erlebte sie, während die dunkle Fettglasur sanft unter ihrem Biss wegknackte und das Vanilleeis auf ihrer Zunge schmolz, Susi und Strolch oder die Männer mit ihren fliegenden Kisten sowie einige wenige andere Filme. Allzu lange hielt die neue Freundschaft allerdings nicht. Wenn sie ehrlich war, dann war ihr Wunsch, umsonst ins Kino zu kommen, größer als andere Gemeinsamkeiten. Bald lud Karin sie nicht mehr ein. Ein paar Nachmittage lang streunte Hannah nun mit Corinna herum, einem Mädchen mit dunklem Blick, das sie vor der Schule angesprochen hatte. Als Sitzenbleiberin war Corinna allerdings in Muttis Augen absolut kein Umgang für Hannah und nachdem Corinna sie einmal überredet hatte, mit ihr über den nahegelegenen Friedhof zu gehen, auf dem angeblich Geister aus den Gräbern kamen, was sie kürzlich erst genau gesehen habe, da war es auch mit dieser Beziehung aus. Mutti vertrimmte Hannah nach Strich und Faden, außer sich vor Sorge, als Hannah nach diesem vermeintlichen Abenteuer, bei dem sich ärgerlicherweise nicht ein einziges Gespenst gezeigt hatte, viel zu spät nach Hause kam. "Ich habe doch gesagt, diese Göre ist nichts für dich. Such dir endlich eine anständige Freundin. Eine richtige."
Eine richtige, allerbeste Freundin, eine für immer. Oh ja. Nichts lieber als das. Hannah sehnte sich längst mit allen Fasern danach. Nach einem Mädchen, bei dem sie sich nicht zu verstellen brauchte, bei dem sie einfach sein durfte, wie sie war. Und auch diese Freundin sollte sein dürfen, wie sie war. Höchste Zeit, sie endlich, endlich zu finden.
Zum Schluss noch ein paar Informationen zum Thema Persönlichkeitsrechte. Die sind nach meiner Erfahrung immer noch recht dünn gesäht im Netz und in der Literatur. Zumindest finde ich keine eindeutigen Aussagen, die mir Sicherheit geben. Zum einen ist von dem Recht zu lesen, über das eigene Leben zu schreiben, und das steht nun einmal im Kontext zu anderen Menschen. Zum Anderen ist Datenschutz ein hohes Gut und Persönlichkeitsrechte werden spätestens seit dem Caroline-Urteile zunehmend ernster genommen. Darin geht es zwar um das Privatleben von Prominenten, das nicht ungestraft einfach in Bild und Wort ausgebreitet werden darf, doch Rückschlüsse auf "normale Menschen" sind durchaus sinnvoll. Autoren und Autorinnen sollten also weise überlegen, was sie tun, und sich sicherheitshalber von einem Medienanwalt beraten lassen. Eine Freundin tat das und bekam den Rat: "Verzichten Sie lieber auf eine Veröffentlichung. Das und das sollten Sie besser nicht schreiben - ohne Genehmigung der Beteiligten." Die wiederum war schwierig zu bekommen und so blieb von ihrer Idee, über alte Lübecker Geschäfte zu schreiben, nicht viel übrig. Dass die Erben zu befragen sind, wenn der zu Beschreibende bereits verstorben ist, macht die Sache nicht einfacher. Die muss man erst einmal entdecken. Nur über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens darf man offenbar so ziemlich alles schreiben, aber die kommen in meiner Biografie kaum vor.
"Je weniger prominent ein Mensch ist, desto stärker ist im allgemeinen sein
Anspruch darauf, eben nicht in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden", schrieb ein befreundete Autor über Facebook. "Der
einzige sichere Ratschlag kann nur sein, Betroffene um Erlaubnis zu
fragen." - Schwierig, schwierig! Ich bin selbst gespannt, wie ich das für mich lösen werde. Aber ich werde es lösen ...!
Bis bald sagt Eure
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