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Samstag, 22. Mai 2021

Offenheit, Tabus und Persönlichkeitsrechte in der Biografie

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

"Ich finde Deine Offenheit sehr gut. Meiner Ansicht nach kann man gar nicht zu offen sein. Alle Menschen haben ihr Päckchen zu tragen. Haben Ängste und Sorgen. Aber diese verstecken wir gerne. Danke Dir." Das schrieb ein Leser zu meinem gestrigen Post. Der war übrigens seit Bestehen des Blogs der bisher meistgelesene Beitrag. Ein Blog, der, wie die Statistik-Funktion zeigt, in mehr als zehn Ländern dieser Erde gelesen wird. Da kann man ja schon von Öffentlichkeit reden. Ehrlich gesagt, war ich ein bisschen in Sorge gewesen, ob ich vielleicht einfach zu öffentlich gewesen war, mich zu sehr seelisch entblößt hatte. Andererseits, ich bin nun einmal ein frei denkender Mensch und ich mag Menschen, die sich zeigen, wie sie sind. Ich finde, wir können viel mehr voneinander lernen, wenn wir uns nicht ständig verstecken und so tun würden, als wären wir nicht der oder die, die wir wirklich sind. Das fliegt auf die Dauer eh auf. Tabu-freies oder zumindest tabu-armes Schreiben sind für mich gutes und authentisches Schreiben, das die Leser und Leserinnen unterhält. Solch ein Schreiben ist echt.

Einfach fließen lassen - ehrlich und authentisch ...

Ich habe also beschlossen, meine Geschichte für euch so ehrlich wie möglich zu schreiben. Das darf ich zum Glück auch. Es ist ja meine eigene Geschichte. Anders sieht es mit den Personen aus, die darin vorkommen. Deren Geschichte darf ich nämlich nicht einfach so veröffentlichen ohne deren Einverständnis. So verändere ich also erst einmal Namen und Umstände und Orte, wo mir das sinnvoll erscheint, um diese Menschen möglichst unkenntlich zu machen. Und wo es allzu prekär wird, werde ich mich wohl auf kurze Andeutungen und Zusammenfassungen beschränken müssen, was meine Mitmenschen angeht, oder manches einfach weglassen. Das Verständnis muss gewahrt werden, doch der Schutz dieser Menschen ist mindestens ebenso wichtig. Leider  muss ich davon ausgehen, dass meine verflossenen Ehemänner ihr Sein und Werden nicht unbedingt gedruckt sehen möchten. Jedenfalls nicht, ohne jeden Text, in dem sie vorkommen, gegengelesen und genehmigt zu haben. Dazu müssen sie aber Lust, Interesse und Zeit haben. Und auch Mut. - Andererseits, wie soll ich die Geschichte eines Mädchens erzählen, das unbedingt heiraten soll, als Ehefrau dreimal ihr Glück sucht und versagt, ohne die Männer zu erwähnen, die mit ihm die Ringe tauschten?! Eine Gratwanderung! Sollte in dieser Hinsicht jemand von euch gute juristische Tipps haben, bitte immer her damit. Vielleicht sollte ich auch unter Pseudonym schreiben? Na, zu spät ...! Imerhin habe ich inzwischen das Genre meines Buches neu festgelegt: Es wird kein Memoir. Es wird keine Autobiografie. Es wird ein autobiografischer Roman. In drei Teilen. Eine BioTriLogie. Das meiste darin stimmt, aber eben nicht alles.

In Hannahs Geschichte bin ich im Rahmen dieses Blogs noch in der Phase von Kindheit und Jugend. Meine Eltern leben nicht mehr und bisher kam niemand vor, der sich falsch beschrieben gefühlt haben und beschweren könnte. Also erzähle ich euch jetzt mal, wie es weitergeht. Hannah, ihr werdet euch erinnern, durfte nicht das Lyzeum besuchen, obwohl Fräulein Voss es empfohlen hatte und obwohl sie es so sehr gewollt hatte. (Eine etwas ausführlichere Zusammenfassung von dem, was bisher geschah, findet ihr hier.) Die Familie war inzwischen in eine größere Wohnung gezogen, in den Essener Norden. Dort gab es:

Eine Schule nur für Mädchen
Die Ferien waren vorüber. Der Alltag an der Mädchenrealschule Essen-Borbeck hatte begonnen. Anders als in der Volksschule gab es hier keine Jungen. Stattdessen bekam Hannah aufregende, neue Schulfächer, wie Englisch, Physik oder Biologie. Rechnen hieß auf einmal Mathematik. Chemie kam erst etwas später dran. Und auch auf den Französisch-Unterricht, von dem Mutti so begeistert gesprochen hatte, musste sie bis zur siebten Klasse warten. 

Eines unvergessenen Tages kam ein gewisses Fräulein Stürmer in die Klasse geeilt. „Bon jour, des jeunes filles“, grüßte sie. Das bedeutete wohl so was wie „Guten  Morgen, junge Damen“. Und dann sagte sie einige Sätze, die Hannah nicht verstand, in der neuen Sprache. Mutti hatte ja so Recht gehabt. Hannah liebte diese elegante französische Melodik vom ersten Tag an. Sie freute sich über jede neue Vokabel, über jede Abbildung im Schulbuch, über jede gute Note. Überhaupt lernte sie wie ein trockener Schwamm, der sich voll Wasser sog. Begeistert. Unersättlich. Sie tat das von Montag bis Samstag, denn noch immer war der Sonnabend nicht unterrichtsfrei. Und noch etwas blieb zunächst einmal bestehen: In den Pausen auf dem Schulhof stand sie abseits, allein. Das war traurig, aber so schlimm auch wieder nicht, solange sie nur lernen und sich ausprobieren durfte.

Im Laufe der nächsten Zeit fand Hannah immer mehr heraus, was ihr lag und was nicht. Mathematik und Physik fielen ihr vergleichsweise schwer. Sprachen lagen ihr sehr. Im Kunstunterricht verbrachte Hannah ihre schönsten Schulstunden. Die Schülerinnen emaillierten eine kleine, rechteckige Kupferscheibe und beklebten damit ein Holzkistchen, das mit Palisanderfurnier sorgfältig ummantelt wurde. Sie stellten Wachspapier her und gestalteten damit ein kleines, selbst gebundenes Fotoalbum, in das Hannah später Fotos von Gerald kleben würde, von dem hier noch die Rede sein wird. Und eines Tages kam Hannah zum ersten Mal mit Ton in Berührung und töpferte, absolut begeistert von diesem Material, einen lebensecht wirkenden Babyelefanten, ohne auch nur zu ahnen, welche Bedeutung diese spontane Liebe zum Ton noch für sie erlangen würde. Schließlich zeichneten die Mädchen mit Hilfe von Spiegeln ihre Gesichter und porträtierten wenig später einander mit dem Zeichenstift. Hannah fand das faszinierend. Malen und Zeichnen begeisterten sie. Und je nach Thema machte es besonders viel Spaß.

Ein Höhepunkt war die Aufgabe, ein Bild von Robinson Crusoe‘s Papagei zu malen, mit Deckfarben. Schon das Vorzeichnen machte Hannah glücklich, erst recht aber, die entstandenen Flächen mit satt-bunten Farben zu füllen. Die sich entfaltende Atmosphäre passte sehr gut zu ihrer Sehnsucht nach Sonne, Wärme und üppig tropischem Grün und Bunt. Das Bild gelang ihr so gut, dass es zu ihrem Stolz im Schaukasten landete und dort hing, bis es irgendwann durch das Bild einer anderen Schülerin ersetzt wurde. Fortan wartete sie auf die Rückgabe ihres Bildes. Und wartete. Und wartete. Endlich fragte sie Frau Bahde, ihre freundliche, kleingewachsene Kunstlehrerin, nach dem Verbleib. „Ich schau mal nach“, sagte sie. Doch das Bild war und blieb verschwunden. Es musste jemandem ganz besonders gut gefallen haben. Ob dieser Jemand geahnt hatte, wie gern Hannah später noch einmal einen Blick darauf werfen würde ...? 

Es war keine Frage, dass Hannah auch Musik liebte. Nicht aber den Musikunterricht. Nach einem kurzen, peinlichen Vorsingen vor der ganzen Klasse im Musikraum, neben der Lehrerin am Klavier stehend, wie die anderen Mädchen, die vor und nach ihr an der Reihe waren, landete Hannah im Schulchor. Zu ihrer Enttäuschung ordnete die Lehrerin sie dem Alt zu. So ein Mist! So viel lieber hätte sie die erste Stimme gesungen. Es schien ihr Schicksal zu sein, dass sich die meisten ihrer Wünsche nicht erfüllten. Doch manchmal gab es auch so etwas wie Glück.

Es war wohl im achten Schuljahr, da geschah etwas Einzigartiges: Hannah durfte im Erdkundeunterricht selbst eine komplette Schulstunde zum Thema Tundra und Taiga abhalten. Indem sie tatsächlich aufzeigte, als Frau Walter fragte, wer dazu bereit sei, wuchs sie, das schüchterne Mädchen, über sich selbst hinaus. Fast alle hatten ein bisschen Angst vor der gestrengen Lehrerin, die Hannah unvergessen bleiben würde, seit sie im Erdkunderaum aufs Pult gestiegen war und mit ihren Schnürschuhen mit den weichen Kreppsohlen vorführte, wie man die Füße beim Gehen auf gesunde Weise abzurollen hatte. Viel größer als die Angst vor ihr und die Furcht, sich zu zeigen und womöglich zu versagen, war der Wunsch, vor der Klasse zu stehen, einmal wirklich gesehen zu werden. Ein einziges Mal wollte sie das Sagen haben, etwas genau so tun, wie sie das wollte, und damit die Anerkennung ihrer Lehrerin und ihrer Mitschülerinnen gewinnen. Es kam zu einem Stechen, weil eine Mitschülerin und sie um diese Ehre buhlten.
“Also gut“, sagte Frau Walter, „wer die Lernkarte mit dem Begriff Tundra zieht, darf die Stunde halten.“ Mit einigen gefächert gehaltenen Karten kam sie auf die Mädchen zu. Mit Argusaugen entdeckte Hannah sofort die winzige Überschrift auf der Rückseite, an die Frau Walter wohl nicht gedacht hatte, deutete auf die richtige Karte, bekam den Zuschlag und erlebte bald darauf zu ihrem ungläubigen Staunen, dass ihre Mitschülerinnen ihrer Stundengestaltung willig folgten. Als es zum Stundenende klingelte, war sie stolz und erschöpft zugleich. Danach versank sie wieder in der vermeintlichen Unsichtbarkeit.

Na ja, fast. Einmal fiel sie noch auf. Das hatte mit Herrn Binser zu tun, den die Mädchen eine Zeitlang in Deutsch und Geschichte hatten und als mindestens ebenso streng galt wie Frau Walter. An ihm war ein General verloren gegangen. Wenn die Schülerinnen allzu schläfrig und desinteressiert im Unterricht saßen, rief er jedes Mal: „Ihr sitzt ja da wie die Ölgötzen! Was seid ihr denn für Schlafmützen ...?! Also, alle aufstehen. – Uuund setzen! Und aufstehen! Setzen! Aufstehen! Setzen ...!“ Danach waren alle wach, zumindest für den Moment. Viele ihrer Mitschülerinnen stöhnten ob dieser Behandlung, aber Hannah fand das irgendwie lustig und auch sinnvoll. Und nachdem Herr Binser ihr in einem Aufsatz eine eins gegeben hatte – eine Note, mit der er gewöhnlich äußerst sparsam war – hatte er ihr Herz vollends gewonnen. 

In Mathe und Physik brachte Hannah es immerhin noch auf eine Drei. Im Sportunterricht dagegen war sie nach wie vor eine Nulpe. Das betraf den Sport in der Halle ebenso wie den auf dem Platz. Beides war der reinste Horror für sie. Wie ein nasser Sack hing sie am Barren. Beim Sportfest errang sie nicht einmal eine kleine Urkunde, geschweige denn eine große. Sie konnte weder schnell rennen noch weit springen. Bei der Landung beim Weitsprung fiel sie natürlich nach hinten, plump wie ein Nilpferd, und büßte damit wertvolle Zentimeter bei der Messung einbüßte. Beim Weitwurf kugelte sie sich fast den Arm aus vor Anstrengung. Blöderweise warf sie eher in die Höhe als in die Ferne. Und die Höhe wurde nun einmal nicht gemessen.
So gewöhnte sie sich immer mehr daran, nicht nur eine von den Stillen, sondern auch eine von den Langsamen zu sein, und machte es sich bequem in dieser Rolle. Nur einmal musste sie, gehetzt wie ein junges Reh, in der Halle ebenso schnell laufen wie die anderen, denn die Mädchen liefen in zwei Kreisen – gegenläufig. Bei dieser Gelegenheit lief eines der Mädchen in Hannah hinein. Hannah sah Sterne wie Donald Duck in ihren geliebten Comics, wenn er wieder einmal eins über die Rübe bekommen hatte. Hölle, tat das weh! Den Rest der Stunde durfte sie auf der Schwebebank am Rand verbringen. Diese Sonderrolle gefiel ihr. Sie ruhte sich aus, kam sich ein wenig wichtig vor, massierte ihren Bauch und beneidete wieder einmal Bärbel. Bärbel  war ein As im Sport. Sie sprang wie ein Flummi, sie wirbelte die Geräte rauf und runter, sie rannte, als hätte sie eingebaute Siebenmeilenstiefel und natürlich bekam sie eine große Urkunde – jedes Mal.

Ihr fragt, wer Bärbel ist? Sie würde zu einem der wichtigsten Menschen in Hannahs Leben werden. Mehr dazu beim nächsten Mal.


Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

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