Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!
Und schon geht's weiter mit Hannahs Geschichte:
Rosa, Harald und das kleine I
Die Stimme wohnte irgendwo zwischen Hannahs linkem Ohr und ihrer linken Schulter. Keiner hätte ihren Ursprung je gesehen und nur Hannah konnte sie hören, klar und deutlich, mal sanft säuselnd und mal frech wie Dreck. Als Vierjährige begann Hannah, sich die Stimme als giftgrüne Maus vorzustellen, mit rosaroten Punkten im Fell. Lieb und lustig sah das aus und ein bisschen böse.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Hannah eines Tages so leise, dass niemand sonst sie hören konnte, denn sie spürte instinktiv, dass ihre Beziehung ein Geheimnis bleiben musste.
„Nenn mich Rosa“, sagte die Stimme. „Rosa Grün. Für dich einfach nur Rosa."
Hannah freute sich. Mit Rosa würde sie niemals allein sein – das war ein gutes, warmes Gefühl. Doch allein war sie ja eh nicht. Mutti war immer da, Papa jeden Abend. Vor zwei Jahren war Harald dazugekommen. Und eines Tages kam Mutti mit dem dritten Baby wieder. Da war Hannah fünf.
„Das ist Iris, eure kleine Schwester“, sagte Mutti. „Ein ganz schöner Brocken, haben sie im Krankenhaus gesagt. Sie wiegt zehn Pfund - ein ganzes Kilo mehr als ihr. Aber ist sie nicht trotzdem winzig?“ Mutti bekam feuchte Augen. „Ich glaube, wir werden sie Kleines I nennen.“
Kinderreich und asozial
Die Brauns waren nun also eine Familie mit drei Kindern und damit offiziell kinderreich, was nicht wenige Leute zu Muttis Unbehagen mit asozial gleichsetzten. In der Nazizeit hatte es für kinderreiche Mütter noch eine Ehrung gegeben, das bronzene Mütterkreuz ab vier Kindern und das goldene ab acht. Das war vorbei. Nun waren zwei Kinder irgendwie eleganter. Für Hannahs Eltern bedeutete der moderne Kinderreichtum neben dem Glück, drei quicklebendige kleine Wesen um sich zu haben, die unangenehme Tatsache, jeden Groschen zweimal wenden zu müssen, bevor man ihn ausgab. Die Kinder, das war Ehrensache, hatten besonders gut zu parieren, um der schlechten Meinung der lieben Mitmenschen etwas entgegenzusetzen zu haben. So wurden sie erzogen und das hatte viel mit Ziehen und Schubsen, mit Regeln und Verboten zu tun.
All das machte Arbeit und kostete Nerven. Und so wurde Hannah, um Mutti wenigstens ein bisschen zu entlasten, kurz nach der Geburt des Kleinen I, in den Kindergarten gebracht. Hannah war neugierig auf die vielen anderen Kindern. Sie freute sich ein bisschen. Vor allem aber hatte sie Angst. Sie kannte da doch niemanden. Und so klammerte sie sich an Muttis Hand, als sie an einem Montag endlich vor dem Kindergarten standen.
„Nun stell dich nicht so an", sagte Mutti und haute Harald, der zappelig an ihrem Ärmel hing, kurz auf die Finger. "Es ist ja nur für ein Jahr. Dann kommst du sowieso in die Schule. Jetzt bleibst du erstmal hier.“ „Ich will aber nicht!" Hannahs Angst, gleich ganz allein zwischen lauter fremden Menschen zu sein, wurde mit einem Mal übermächtig. Schnodder vermischte sich mit ihren Tränen, bis ihr beides salzig über die Lippen lief.
"Schluss jetzt", sagte Mutti und zog Hannah in das graue Gebäude. Eine Frau kam ihnen entgegen. "Das muss die kleine Hannah sein", sagte sie. "Komm mit. Hier kannst du deine Tasche hinhängen." Die Umhängetasche aus hartem, braunen Leder, die die Familie von irgendwoher geerbt hatte, was das Groschenwenden in diesem Fall entbehrlich machte, und in der nun ein Leberwurstbrot in trauter Eintracht mit einem halben, sich bräunenden Apfel lag, trug Hannah um den Hals. Die Frau nahm sie fort und hängte sie zwischen andere Taschen an einen der bunten Haken. Jemand hatte einen Igel aus Holz darüber geklebt. Links daneben gab es ein Huhn, rechts eine Katze. Hannah hörte Kinderlachen von nebenan und schämte sich, dass sie heulte, als die Kindergärtnerin sie in den Raum zog, aus dem der Krach kam. Lauter fremde Kinder waren darin. Einige schauten neugierig, während Mutti mit Harald und dem Kleinen I einfach ohne sie heimging.
Hannah fühlte sich schrecklich. Sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Es war, als sei sie ein Zwergenmädchen unter lauter gefährlichen Riesen, die alle viel stärker waren als sie. Den ganzen Vormittag lang blieb sie schweigsam in der Ecke mit den Bauklötzen sitzen, eine Puppe auf dem Schoß, deren Locken sie um ihren Zeigefinger wickelte. Als alle Kinder nach draußen mussten, durfte auch sie nicht drinnen bleiben. Im Schatten eines Baumes sitzend, buk sie selbstvergessen Kuchen aus feuchtem Sand, streute trockenen Sand als Puderzucker darüber und sagte kein Wort.
Mittags holte Mutti Hannah endlich wieder ab, vor Eile und Anstrengung schnaufend, Hannahs heulenden Bruder, der gar nicht zu wissen schien, warum er so schnell hatte laufen müssen, an der einen Hand und mit der anderen den Griff des Kinderwagens umklammernd. Sie war rot wie ein Weihnachtsapfel im Gesicht.
„Das tu ich mir nicht mehr an“, schimpfte sie, „der Weg ist viel zu weit, und das zweimal hin und zurück! Das soll ich jetzt jeden Tag machen? Da spar sie ja nichts!“
Vor lauter Ärger vergaß sie, Hannah übers Haar zu streichen. Stattdessen stellte sie den Kinderwagen mit dem Baby vor Hannahs Nase. „Schieb du mal deine Schwester ein Stückchen. Mutti muss sich ausruhen.“
Hannah gehorchte. In diesem Moment hätte sie alles getan, wenn sie nur nicht wieder in diesen blöden Kindergarten musste.
„Kann ich morgen zu Hause bleiben?“, fragte sie hoffnungsvoll und schob mit aller Kraft.
Mutti seufzte. „Natürlich nicht. Ich habe dich doch gerade erst angemeldet ...“
„Aber du hast doch gerade eben gesagt ...“
"Wer ist hier die Mutter?! - Nun sei bloß nicht vorlaut!"
Da sagte Hannah nichts mehr.
...
Nun wieder Fragen an euch: Stellt sich ein gewisses Mitgefühl mit Hannah ein? Oder eher mit Margrit? Oder mit beiden? Seid ihr gespannt, wie es weitergeht?
Bisher bekam ich schon mehrmals die Rückmeldung, die Geschichte sei spannend zu lesen, was mich natürlich freut. Aber, für den Fall, dass ihr selbst schreiben wollt, was bedeutet Spannung, wie erzeugt man sie? Zunächst einmal: Spannung hat mit Action nur sehr bedingt zu tun. Da kann mit Pulverdampf und Säbelrasseln ein ganzes Heer im Krieg abgeschlachtet werden, was ja sicherlich Action ist, und doch kann der Leser vergleichsweise unbeteiligt bleiben, wenn er die einzelnen Soldaten nicht bereits näher kennengelernt hat. Ohne Mitgefühl keine Spannung. Der Leser muss sich ernsthaft und möglichst mit allen Fasern dafür interessieren, wie es den Protagonisten ergeht - es darf ihm nicht egal sein.
Für diese Anteilnahme zu sorgen, ist eure Aufgabe, wenn ihr selbst eure Biografie schreibt. Schildert die Geschehnisse so, dass Bilder und Gefühle beim Lesen entstehen. Und erzeugt, etwa durch geschickte Andeutung und offene Fragen, die nicht sofort beantwortet werden - auch wenn sie spätestens am Ende des Buches eine Antwort gefunden haben müssen - Spannung Alfred Hitchcock, der "Master of Suspense", unterschied Surprise von Suspense. Während Surprise ein unerwartetes Ereignis charakterisiert, also eine Überraschung, die aufhorchen lässt, aber relativ schnell verpufft, meint der Begriff Suspense die Erwartung eines Ereignisses, die erst einmal nicht erfüllt wird. Das wird zwar in einer Biografie nicht unbedingt so auf die Spitze getrieben, wie in vielen Filmen, in denen zum Beispiel der Held der Heldin gerade etwas Wichtiges gestehen will und just in diesem Moment der Postbote klingelt oder sonst etwas das Geständnis schon wieder verhindert. Fragen werden im Verlauf der Geschichte oft schon in der nächsten Szene oder gar im nächsten Satz geklärt. - Aber ein bisschen Suspense sollte schon sein. Und der große Spannungsbogen steht ohnehin über allem.
Zum Abschluss noch eine Frage für euch: Es ist nicht zu erwarten, dass Leser beim Lesen einer Biografie ständig vor Aufregung schlottern, Muss ja auch nicht sein. Viele kleine neue Fragen halten das Interesse auch schon wach. Überlegt mal: Welche Fragen, die eine gewisse Spannung erzeugen, tauchen in dem Text über Hannah auf, den ihr gerade gelesen habt. Und wie sehr seid ihr daran interessiert, die Antwort zu erfahren?
Bis bald sagt Eure
Liebe Sigrid, ich kann meine Neugier in Bezug auf Margrit und Hannah noch nicht vergleichen. Es ist zu früh. Ein täglicher Blog "zwingt" mich zum Lesen. Das mag ich nicht so. Liebe Grüße Susanne
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