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Sonntag, 16. Mai 2021

Heiraten als Lebensperspektive in den 1960er-Jahren

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Für alle, die jetzt erst in die Geschichte einsteigen und nicht extra "zurückblättern" möchten, werde ich zweimal im Monat eine kurze Zusammenfassung posten. Los geht's:   

Die dralle Margrit und der stille, einäugige Bernhard haben - peinlicherweise über eine Anzeige, was niemand wissen soll - in Liebe zusammengefunden und heiraten 1950, mit Ende zwanzig. 1955 bringt Margrit das erste Kind zur Welt. "Wie schön", haucht sie, "ein Mädchen". Die beiden nennen das Kind Hannah Ruth. Der zweite Vorname, der Patentante entlehnt, klingt wie ein Versprechen: Ruuuth, wie Ruhe. Ein braves, gehorsames kleines Mädchen soll Hannah Ruth werden und das scheint auch erst einmal zu klappen. Margrit, nunmehr Mutti, hat Schlimmes erlebt, was einen rundum ängstlichen Menschen aus ihr gemacht hat. Sie lacht zwar trotz allem gern, aber ihre Angst vor allen nur denkbaren Gefahren überträgt sie auf Hannah und später auf deren jüngere Geschwister Dietmar und Ines. Die Familie wohnt beengt in einer Zweizimmerwohnung in der Nähe des Essener Hauptbahnhofs, mitten im Kohlenpott. Ein eigenes Kinderzimmer gibt es nicht. Hannah schläft in der Küche, gleich neben dem stinkenden Ölofen. Zechen sind hier nicht zu sehen, aber das trutzigeVerwaltungsgebäude der Ruhrkohle ganz in der Nähe flößt Hannah Respekt ein.  Hinter der Unterführung beginnt "Essen, die Einkaufsstadt", ein Einkaufsparadies. Das Meiste, was es dort zu kaufen gibt, ist allerdings unerschwinglich und Hannah lernt schon bald die Bedeutung des Satzes "Das können wir uns nicht leisten." kennen und hassen. Der ist ebenso allgegenwärtig wie "Mach das bloß nicht. Das ist viel zu gefährlich!". Als Hannah mit knapp sechs Jahren in die Schule kommt, eröffnet sich ihr ansatzweise eine neue Welt. Nun darf sie nicht nur allein über die gefährliche Helbingstraße und den ganzen langen Schulweg gehen, nun soll sie sogar. Mit dem erweiterten Radius wird sie ein kleines bisschen mutiger und Rosa, die unsichtbare kleine Maus auf ihrer Schulter, die nur Hannah hören kann, unterstützt sie dabei. Hannah liest und lernt für ihr Leben gern. Zu ihrer Mutter fühlt sie sich in einer Art Hassliebe verbunden. Ihren Papa aber, der als kaufmännischer Angestellter in einer Turngerätefabrik arbeitet, von einem Schrebergarten träumt, Zigarillo raucht und im übrigen tut, was seine Frau ihm sagt, liebt sie aus ganzem Herzen. Auch wenn er ein Mann ist und früher mal ein Junge war. Dass Jungen anders sind, weiß Hannah, ausgestattet mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, nicht nur, seit sie Dietmars Schniedel beim gemeinsamen Bad zu dritt in der Wanne, immer wieder samstags, entdeckt hat. Es ärgert sie, dass ihr kleiner Bruder anders behandelt wird. Wie sehr aber die Tatsache, dass sie ein Mädchen ist,  ihr Leben bald schon lenken wird, ahnt das lernbegierige Mädchen noch nicht. Aber gleich wird Hannah es wissen. Macht es euch bequem. Viel Spaß beim Lesen! 



Mädchen heiraten - sowieso?
Hannah war mindestens so aufgeregt wie an ihrem ersten Schultag. Die ersten vier Jahre an der Friedensschule waren fast vorüber. Nun stand die Entscheidung an, ob sie noch vier Jahre an dieser Volksschule bleiben und dann die Schule verlassen würde, um einen Beruf zu erlernen, oder ob sie zur Realschule oder gar zum Lyzeum wechseln würde. Das Wort Lyzeum hatte für sie einen wunderbaren Klang. Die Viktoria-Schule, an der sie jeden Morgen vorbeikam, war ein Gymnasium nur für Mädchen. Das weiß gestrichene Gebäude, das sich aus Grundmauern aus grob behauenen Natursteinen erhob, sah aus wie ein Schloss. Mit den drei Flügeln, die sich u-förmig aneinanderschmiegten, dem runden Portal, von Säulen flankiert, dem großen Hof davor, dem Ehrfurcht gebietenden, hohen Schultor war es Hannah vom ersten Tag an geheimnisvoll, wunderschön und höchst erstrebenswert erschienen. "Das ist das Lyzeum", hatte Mutti gesagt, als sie an Hannahs erstem Schultag daran vorübergekommen waren. Da war so ein seltsam schwärmerischer Klang in Muttis Stimme gewesen, als hätte sie insgeheim sagen wollen: Da wäre ich auch gern zur Schule gegangen. Und genau das wollte auch Hannah. Nun würde es sich gleich entscheiden. Das Gespräch mit der Lehrerin stand an und der Wechsel zur höheren Schule. Dass es nicht bei der Volksschule bleiben würde, obwohl ja Papa auch nur zur Volksschule gegangen und jetzt trotzdem der zweitwichtigste Mann in der Turngerätefabrik war, das schien ihr klar zu sein. Aber Hannah wollte mehr, unbedingt.  

Sie mussten ein paar Minuten draußen im kühlen, dämmerigen Flur warten. Hier und da ein paar Schritte, ein Räuspern, das Ticken der Uhr. Anspannung lag in der Luft. Hannahs Hals war ganz trocken, aber ihre Finger waren feucht. "Auf welche Schule soll ich denn nun?", fragte Hannah flüsternd. Sie hatte schon mehrmals gefragt und Mutti war stets ausgewichen: "Wart's ab", hatte sie gesagt. Inzwischen fand Hannah die Spannung fast unerträglich.

Im nächsten Moment ging die Tür ihres Klassenzimmers auf. Fräulein Vogt verabschiedete sich von der Frau, die Hannahs Mitschüler Rüdiger begleitete. "Rüdiger wird es schon schaffen auf dem Gymnasium", sagte Fräulein Vogt gerade. "Er muss sich nur ein bisschen anstrengen." Die Frau, die Rüdigers Mutter sein musste, nickte und strubbelte ihrem Sohn stolz durchs Haar. Der wurde rot und strich die Haare wieder glatt.

"Frau Braun", sagte Fräulein Vogt, "darf ich bitten." 

Rüdiger war der beste Freund von Wolfgang, dem blassen Jungen mit den schmalen Augen, der Hannah immer so komisch anguckte. Die beiden saßen in der Bank vor ihr. Rüdiger ist schlechter in der Schule als ich, dachte Hannah aufgeregt, wenn der zum Gymnasium darf, dann darf ich auch. Oh, ich will unbedingt.

Das Gespräch mit Fräulein Vogt begann mit einigen Sätzens höflichen Geplauders. Dann kam der Moment, den Hannah niemals vergessen würde. "Ich denke, Frau Braun", sagte Fräulein Vogt, "Sie sollten Hannah zum Lyceum schicken. Sie hat das Zeug dazu."

Ja, ja, ja!, jubelte Hannah innerlich. Sie war ja so stolz. Mutti schien einen Moment zu überlegen. "Mir ist das Lernen auch immer leicht gefallen", sagte sie dann, "und ich freue mich, dass es meiner Tochter offensichtlich ebenso geht. Aber trotzdem: Realschule reicht. Ich habe die mittlere Reife und danach die Höhere Handelsschule gemacht, das hat durchaus genügt. Sie wissen ja: Mädchen heiraten sowieso."

 "Aber Mutti ...!" Tränen standen in Hannahs Augen. 

"Nicht jetzt", sagte Mutti, "wenn Erwachsene Reden, haben Kinder zu schweigen". Dann wandte sie sich wieder der Lehrerin zu. "Mein Mann hat nur Volksschule und er kann trotzdem eine Familie ernähren. Unser Sohn wird wohl Abitur machen dürfen - die Zeiten haben sich geändert. Ein Studium wäre vermutlich gut für ihn. Aber für ein Mädchen kostet es nur unnötig Geld und Zeit. Hannah wird einen netten Mann heiraten und Kinder bekommen und ...", sie holte tief Luft, "glücklich sein.“

"Sind Sie da sicher? Ein wacher Geist braucht Herausforderungen. Hannah könnte es schaffen. Ich selbst bin auch noch nicht verheiratet und mir geht es trotzdem gut."

"Nun, das will ich nicht in Frage stellen", sagte Mutti, obwohl sie so aussah, als täte sie das sehr wohl. "Was mich betrifft, so bin ich wirklich froh, dass ich meinen Mann habe. Es ist so viel besser, als allein durchs Leben zu gehen. Hannah wird das eines Tages einsehen, da bin ich mir sicher." Mutti stand auf und zog auch Hannah vom Stuhl hoch. "Komm, Kind, da draußen warten noch mehr Leute. Fräulein Voss hat zu tun."

Den ganzen Heimweg über quengelte Hannah. Sie konnte es einfach nicht fassen. Sie konnte doch heiraten und trotzdem zur Schule gehen. Und außerdem war sie nicht einmal zehn Jahre alt. Bis sie mal heiraten würde, wäre sie uralt. Jetzt aber wollte sie in diese wunderbare weiße Schule gehen. Sie war sich absolut sicher, dorthin zu gehören. „Kann ich nicht vielleicht doch, Mutti ...?“, fragte sie zum gefühlt hundertsten Mal.


„Nun hör schon auf, Hannah. Du wirst sehen, an der Realschule gefällt es dir ganz bestimmt. Da lernst du sogar Französisch. Das ist solch eine schöne Sprache“, Muttis Augen begannen zu glänzen, „toujours l’amour und Tour Eiffel, Madame et Monsieur, Champs Elysées – klingt das nicht alles wunderbar? Und eines Tages fährst du dann nach Paris und bestellst auf Französisch ein Baguette.“
Hannah hatte keine Ahnung, was ein Baguette war, und sie wollte es auch gar nicht wissen, auch wenn sie zugeben musste, dass dieses Französisch wirklich sehr gut klang. Es würde Spaß machen, das zu lernen. Aber trotzdem ... 

Hannah warf ihrer Mutter  einen Blick zu, der sicher alle Eiswürfel im Eisfach des Kühlschranks auftauen könnte, aber Mutti reagierte nicht. Allerdings sahs ie selbst ein bisschen traurig aus, fand Hannah. Gerade zog sie ihr Batisttaschentuch mit den aufgestickten Maiglöckchen aus dem Blusenärmel, polierte die Brille und putzte sich dann die Nase. „Ich bin wirklich sehr froh, dass Papa in Borbeck endlich diese größere Wohnung für uns gefunden hat“, sagte sie, „und von da aus bis zur Mädchen-Realschule ist es gar nicht weit. Da gehst du dann hin. – Es wird dir schon gefallen.“


Hannah holte Luft. Ein paar Wimpernschläge lang suchte sie noch verzweifelt nach einer Antwort, die für die weiße Schule sprach, doch sie fand keine mehr und schwieg. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie gab einfach auf. - Zumindest für den Moment. Zum Glück war da ja noch Rosa, die ganz leise flüsterte: "Noch ist nicht aller Tage Abend. Es liegt ganz bei dir."

Arme Hannah ...! Aber immerhin, sie ist noch sehr jung. So viele Chancen liegen noch vor ihr. Rosa hat ganz recht. Es liegt an ihr, was sie daraus macht. - Wie war das bei euch, als die Weichen gestellt wurden für eure Schullaufbahn? Wart ihr euch mit euren Eltern einig?

Zum Schluss noch ein bisschen Schreibtechnik für eure eigene Biografie: Es macht viel Spaß, zunächst einfach daraufloszuschreiben, und das kann auch ganz okay sein. Doch wenn ihr keine Struktur habt, wird eure Energie (Au ja! Ich schreibe jetzt mein Leben auf. Mir fällt ja so viel ein ...!) vermutlich irgendwann verpuffen. Das Lebenslandschaftsbild mit den Luftballons, das ihr inzwischen vielleicht schon gemalt habt, kann eine gute Leitschnur sein, um voranzukommen. Möglich, gerade zu Beginn, ist auch eine thematisch gegliederte Stoffsammlung, ähnlich wie früher in der Schule. Ihr nehmt zum Beispiel das Thema Ernährung, schreibt dazu alles auf, was euch einfällt, in Stichworten: feste Essenszeiten, Lieblingsspeisen, der verhasste Spinat, Plätzchenbacken zu Advent, Tischgebet, an der Herdplatte verbrannt, verkohlte Gans im Ofen, Sonntagsessen, Abwasch, Markttag und so weiter. Die Stichworte könnt ihr zu übergeordneten Gruppen zusammenfassen, so wie sie für euch persönlich zusammenpassen. Einige Stichworte können bei diesem Prozess entbehrlich werden und erst einmal oder auf Dauer wegfallen. Aus dem, was übrig bleibt, werden dann, folgerichtig in die Handlung eingebaut, Szenen, wie etwa der sonntägliche Kaffeeklatsch mit Oma, der, friedlich gedacht, immer wieder für Streit sorgte. 

Wenn ihr, siehe oben, die Handlung immer wieder einmal narrativ zusammenfasst, könnt ihr feststellen, ob der rote Faden vorhanden ist. Als Autorinnen und Autoren sollte ihr selbst nämlich unbedingt wissen, worauf das Ganze hinauslaufen soll, damit eure LeserInnen, genau darauf gespannt, am Ende eurer Biografie oder eures Memoirs just diesen roten Faden im Leben des Protagonisten, der Protagonistin, erkennen können und denken: Das musste(!) ja irgendwie so kommen. 

Denkt an euer Leben zurück. Welches Thema kam immer wieder vor. Was war offensichtlich euer "Schicksal"? Habt ihr dagegen aufbegehrt oder lieber nicht? Wo erkennt ihr euren roten Faden? 

Nachklapp: Ach übrigens, seit Juli 2021 ist "Hannah - Das Kind will nicht heiraten ..." zu haben. Und hier geht's zum kompletten Buch. :-)

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

 



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