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Mittwoch, 12. Mai 2021

Zeitreisemaschine und Traumreisen für die Autobiografie

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Träumt ihr auch manchmal davon, mit einer Zeitreisemaschine in die Vergangenheit zu reisen? Wer hätte das wohl nicht schon einmal getan. Ich würde so gern noch einmal im von Mutti selbst genähten Spielhöschen bei Sonnenschein im Sandkasten sitzen und selbstvergessen Kuchen backen. Oder aufgeregt zum ersten Mal auf dem Schulhof stehen, die Schultüte in der Hand, und zum ersten Mal meiner Lehrerin in die Augen blicken, voller Spannung auf das Ergebnis eine Klassenarbeit zurückbekommen, die vermutlich gut ausgefallen ist, noch einmal den ersten Kuss spüren und die Schlaflosigkeit in der Nacht danach und, und ... Wehmut bleibt nicht ganz aus bei dieser Vorstellung. Überlegt mal, wohin würdet ihr zuerst reisen wollen? Macht euch doch mal eine Top 10 eurer liebsten Zeitreisemaschinen-Ziele. Und dann nehmt ihr euch, einfach aus dem Bauch heraus, ein Ziel heraus und schreibt ein paar Zeilen über das, was euch dazu einfällt. In Gedanken druckt ihr alles aus und klebt genau die Bilder hinein, die ihr dann vor Augen habt. Viel Spaß und gute Reise ...!

Und für alle Hannah-Fans geht es hier weiter mit der Geschichten der kleinen Ruhrländerin: 

Jungen haben's gut - meistens
Hannah Ruth war gewöhnlich so ruhig, brav, anständig, ordentlich und sauber, gehorsam und frei von Widerworten, fleißig und adrett, wie ihre Eltern es sich wohl vorgestellt hatten, als sie ihr den Zweitnamen Ruth gaben. Möglichst viel Ruhe war nach den Schrecknissen und der ängstlichen Unruhe des Krieges auch zehn, fünfzehn Jahre nach dessen Ende zumindest für Mutti und Papa eine große Sehnsucht. Beide hatten Schreckliches erlebt. Mutti würde eines Tages darüber reden, Papa würde weitgehend schweigen, nur ein paar immer gleiche Sätze sagen, aber Hannah würde spüren, dass da mehr gewesen sein musste. Schon früh hatte sie Mitleid mit ihren Eltern und fühlte sich für deren Glück mitverantwortlich. Und weil sie merkte, dass Mutti und Papa zufrieden und erleichtert wirkten, wenn Hannah gehorchte, tat sie ihnen den Gefallen. Meistens zumindest. 

Ordnung und Sauberkeit waren Trumpf. Hannah schrubbte ihre Fingernägel mit der Nagelbürste, wie es sich gehörte. "Wascht euch, aber gründlich. Keine Katzenwäsche!" Der mütterliche Befehl war unausweichlich. Manchmal half Mutti nach, wenn Hannah und ihre Geschwister in ihren Augen nicht sauber genug geworden waren, besonders am Hals und hinter den Ohren. Dann griff sie zum rauen Frotteewaschlappen, seifte ihn ein, rieb mit Schmackes die fraglichen Stellen, bis sie rot waren und brannten und betrachtete dann zufrieden das Ergebnis. Dann erst zeigte sie ihren Sprösslingen den Waschlappen, auf dem sich wundersamerweise dunkle Spuren gebildet hatten. "Da. Seht ihr? Noch Dreck!" 

                Zeit kann im Schneckentempo vergehen oder rasend schnell. Wie wäre es wohl mit der Zeitreisemaschine?

Alle drei Geschwister trugen einen tiefen Seitenscheitel, der mit einem Kamm, der auf der Kopfhaut kratzte, ordentlich gezogen wurde. Harald trug dazu eine Lederhose, karierte Hemden und selbstgestrickte Pullover und die Mädchen von Mutti selbst genähte oder von Cousinen geerbte Faltenröcke und Kleidchen, die sie so brav aussehen ließen wie Schneeweißchen und Rosenrot im Märchenbuch. Dazu weiße Kniestrümpfe im Sommer, auch wenn die blöden Dinger immer wieder rutschten, und warme, kratzige Strumpfhosen im Winter. Sonntags waren Lackschuhe Pflicht, ob sie nun drückten oder nicht. 

Von ihren kleinen Geheimnissen wussten Mutti und Papa ja zum Glück nichts, aber manchmal hatte Hannah das Bedürfnis, ein wenig offenen Widerspruch zu wagen. Das war so gut wie nie von Erfolg gekrönt. „Kinder, die was wollen, krieg’n was auf die Bollen!“ Und wenn genügend Schärfe in Muttis Stimme war, zog das ebenso wie die Warnung vor den bösen Männern, die offenbar überall lauerten, ungehorsame kleine Kinder in Autos zerrten und einfach mitnahmen. 

Hosen trugen nur Jungs. Dass Jungs anders waren, war auch sonst unübersehbar. Sie hatten nicht nur einen Schniedel, wie Hannah bei jedem Bad zu dritt in der Wanne am Wochenende feststellen konnte, sie hatten es einfach viel besser als Mädchen. Sie hatten mehr Rechte und weniger Pflichten. Hannah hatte wenig Neigung, das auf Dauer so einfach hinzunehmen. Rosa trug dazu bei. "Nun sag doch mal, was du denkst", zischelte sie. "Sei nicht so eine Bangebüx. Wie soll aus dir was werden, wenn du immer nur gehorchst?!"
„Ich will auch Hosen tragen“, sagte Hannah, Rosas Worte im Ohr. „Du?" Muttis Stimme klang beinahe spöttisch. "Eine Hose? - Das geht nicht!“
„Aber wieso denn nicht?“
„Nun sei schön vernünftig. Das sieht ordinär aus. Das gehört sich einfach nicht für ein Mädchen!“
Hannah sagte nichts mehr. Doch wenig später stellte sie sich in Haralds Lederhose vor den Spiegel, als ihr kleiner Bruder noch schlief, und betrachtete sich. Das sah ganz gut aus, auch wenn die Hose, für Harald noch ein bisschen zu groß, für Hannah dafür ein bisschen zu klein war. Aber sonst, wirklich gut. Im nächsten Moment regte sich etwas im Schlafzimmer. Sie hörte Papa gähnen und Muttis immer leicht aufgeregte Stimme. In Nullkommanix zog sie die Hose wieder aus und legte sie an ihren Platz über der Stuhllehne zurück.
Papa, der ein besonders großer Junge war, hatte mehr Rechte als Harald, aber auch mehr Pflichten. Er bekam immer das größte Stück Fleisch und Harald nur das zweitgrößte.
„Ich möchte auch mehr Fleisch“, sagte Hannah.
„Nein, mein Schatz, das ist zu teuer. Papa muss den ganzen Tag arbeiten gehen und Geld verdienen und Jungen haben nun mal mehr Hunger. Aber du kannst noch Erbsen und Möhren haben, wenn du willst.“
Dass beim Nachtisch in Haralds Dessertschälchen drei eingemachte Pflaumenhälften im Sirup schwammen, in ihrem aber nur zwei, fand Hannah geradezu empörend. Heulend beschwerte sie sich, doch ihre Mutter lachte nur. Dass ihr Bruder aber eines Tages ein eigenes Zimmer bekommen würde und sie nicht, das tat schon richtig weh.
Obwohl er ein Junge war, war Harald nicht besonders mutig. Auch bei ihm sorgten Muttis Warnungen für Eindruck. Sie warnte vor gefährlichen Hauptstraßen, vor einstürzenden Trümmern und giftigen Pflanzen. Überhaupt brachte sie ihren Kindern bei, vor so ziemlich allem Angst zu haben. Erst im Dunkeln nach Hause kommen? Auf keinen Fall. Rollschuh- und Fahrradfahren? Um Gottes willen! Selbst im Haushalt lauerten überall Gefahren. Sich aus dem Fenster zu lehnen, um zu sehen, was draußen so los war, das war nur Mutti erlaubt. Wie leicht könnten die Kinder hinausstürzen. Auch heißes Wasser auf den Pulverkaffee zu schütten, war ihnen verboten. Lebensgefährliche Verbrühungen hätten die Folge sein können, so schlimm, dass man die zarte Kinderhaut hätte abziehen können wie die Pelle von der heißen Fleischwurst, die es gelegentlich zum Kartoffelsalat gab. 

Im Haushalte mussten Mädchen deutlich mehr helfen als Jungs. Harald half nur mit, wenn der Linoleumboden mit Bohnerwachs behandelt wurde. Mutti trug das stinkende Zeug auf und alle drei Kinder rutschten auf alten Kissen auf dem Fußboden hin und her, um ihn zum Glänzen zu bringen. Da war auch Harald gefragt. Auch beim Abtrocknen durfte er helfen. Bis Mutti eines Tages vergaß, das nasse Brotmesser in Sicherheit zu bringen. Harald griff arglos danach, um es trockenzureiben.
„Nein!", kreischte Mutti. "Das nicht. Sonst stichst du dich und bist tot.“
Harald ließ das Messer fallen wie eine heiße Kartoffel und dachte sichtlich nach. Dann hatte er eine Eingebung. „Das sieht ja dann auch wirklich komisch aus, wenn ich mit einem Messer im Bauch in den Himmel komme zu den lieben Engelein.“
„Eben drum“, sagte Mutti lachend. Doch in ihren Augen stand die Angst.
Hannah war womöglich noch etwas ängstlicher und vorsichtiger als ihr Bruder. Das galt nicht zuletzt auf dem Spielplatz. Sie war zu feige, um sich wie die anderen Kinder an den Kniekehlen kopfüber an die Turnstange zu hängen und fröhlich hin und her zu schwingen. Was, wenn sie herunterfiele. Mutti hatte es gesagt: Ihr Schädel könnte aufplatzen und das Gehirn herausquellen. Als sie sich endlich doch einmal traute, die Rutsche mit den buntlackierten, halbverrosteten Eisenrohren hinunterzugleiten, ganz so wie die anderen Kinder es beständig und lachend taten, und als sie dann im feuchten Sand vergleichsweise sicher gelandet war, fühlte sie sich dennoch den Tränen nahe. Ihre nackten Schenkel brannten und ihre Finger rochen einfach ekelig nach Metall. Sie flüchtete auf eine Bank, bedauerte ihren Mut, baumelte mit den Beinen und sah betrübt den anderen Kindern zu, die eben viel toller und tapferer waren als sie.
Damals wusste Hannah das noch nicht, aber sie war tatsächlich eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder. Als er noch ein Baby gewesen war, hatte sie ihn immer wieder einmal mit Wonne in den nackten großen Zeh gebissen, bis er losbrüllte. Als Baby durfte Harald das noch, später nicht mehr. Inzwischen schimpfte Mutti mit ihm, wenn er heulte, und sagte: „Aber Harald, nun stell dich nicht so an. Indianer kennen keinen Schmerz!“
Das tat Hannah irgendwie leid. Dass Harald, wenn er groß war, vielleicht eines Tages genauso Soldat werden müsste wie Papa, daran mochte Hannah gar nicht denken. Obwohl Papa sehr gut aussah auf dem Foto in Uniform, das Mutti neben ein Foto von sich als junge Frau ins Fotoalbum geklebt hatte. 

 

Wenn Hannah weinte, klang Muttis Stimme nachsichtiger als bei Harald. Dann sagte sie: "Komm, ich puste. Dann ist gleich alles wieder gut." Weinen durfte Hannah immerhin. Nur nicht zu lange. Wenn es Mutti zuviel wurde, rief sie: "Nun stell dich mal nicht so an. So schlimm ist es nun auch wieder nicht!" Meistens fand Hannah das sehr wohl. Aber was wusste sie schon ...

Am Donnerstag oder Freitag geht es weiter. Habt eine gute, erinnerungsreiche Zeit bis dahin. Und vergesst nicht: "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man uns nicht vertreiben kann." (Jean Paul)

P. S. Wusstet ihr schon, was es mit Rosas Stimme auf sich hat? Hier erfahrt ihr mehr darüber. 

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

 


2 Kommentare:

  1. Jeannette Mal wieder
    aus heutiger Sicht: das waren schon seltsame Zeiten für Mädchen. Brav und folgsam sein. Das galt doch für die meisten von uns oder?? Und wir sind doch auch mehr oder weniger brave Frauen geworden oder sehe ich das ganz falsch?? Mit gewissen Spielräumen natürlich. Gilt übrigens auch für viele Männer unseres Alters😁 wir hatten einfach nicht den Freiraum, uns zu mutigen, kreativen und wirklich durchsetzungsstarken und auch -willigen Personen zu entwickeln. Unsere Eltern waren teils überbesorgt, teils gleichgültig, und damit beschäftigt, aus Nichts Etwas zu machen. Vielleicht verständlich aus dem damaligen Zeitgeist heraus.

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    1. Ja, Jeannette, kreativ bin ich zwar geworden, aber auch das wurde damals nicht sonderlich unterstützt. Und mutig und wirklich durchsetzungsstark? Heute vielleicht, na ja, so einigermaßen, aber als Kind ganz bestimmt nicht. :-(

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