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Dienstag, 11. Mai 2021

Geheimnisse oder: Hannah, Herr Krupp, die Kumpel und die Toten

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Wer etwas tut, was Freude macht, geht voller Elan und Tatendrang die Arbeit an. In meinem Fall bedeutet das, möglichst früh am Tag mein Wohlfühl-Schreibpensum abzuarbeiten. Ich haue in die Tasten und mit etwas Glück bin ich schon bald im Flow und rundum zufrieden und glücklich dabei. Gut für die Figur, denn wenn ich so richtig drin bin, vergesse ich zwischendurch sogar, dass ich eigentlich Hunger hätte.

Lesen macht mir fast genausoviel Freude wie Schreiben und deshalb gibt es für euch jetzt erst einmal Lesestoff und nach der Auszeit von gestern eine Wiederbegegnung mit Hannah.

Die Kumpel und die Toten
Müde von all den Eindrücken in der Essener Innenstadt, die so voller Menschen, Dinge, Geräusche und Gerüche war, trabte Hannah an Muttis Hand zurück nach Hause. Zurück durch die Unterführung, zurück zu den Backsteinmauern des alten Friedhofs und zu diesem geheimnisvollen Backsteinkasten mit den vielen Fenstern. Mutti hatte erklärt, dass ganz viele Menschen darin arbeiteten, die vor allem dafür sorgten, dass die Kohle, die die Bergleute aus den Tiefen der Erde holten, verkauft werden konnten. Papa war den ganzen Tag lang bei der Arbeit und kam abends so erschöpft nach Hause, dass er kaum noch etwas erzählte. Aber Mutti erzählte gern und hatte fast auf alle Fragen eine Antwort. Auch wenn manche Antworten sehr unbefriedigend waren, wie etwa "Das ist noch nichts für dich" oder "Das ist nichts für kleine Kinder" oder "Kinder dürfen alles essen, aber nicht alles wissen". Von der Kohle erzählte Mutti gern, denn vor Hannahs Geburt hatte sie in einem wichtigen Verein gearbeitet, der mit Kohle zu tun hatte. 

Inzwischen wusste Hannah längst, dass die Steinkohle rabenschwarz und wertvoll war, weshalb man sie schwarzes Gold nannte. Seit vielen hundert Jahren wurde sie im Ruhrgebiet abgebaut. Ein kleiner Junge soll gar nicht weit von Essen entfernt die ersten glühenden Kohlen in einem Feuer entdeckt haben. Damals konnte man Kohle noch finden, ohne tief zu graben. Das war inzwischen ganz anders. Die Bergleute fuhren mit einem Fahrstuhl tief in den Bauch der Erde hinab, um Stollen zu bauen, Kohlenflöze zu entdecken und die Kohle loszuhauen. In den Fördertürmen, die zu jeder Zeche gehörte, wurden sie ans Tageslicht gebracht. Man brauchte sie nicht nur, um Wohnungen und Häuser zu heizen und Dampflokomotiven anzutreiben, sondern ganz besonders in der Industrie. Männer, die Stahlkocher hießen, arbeiteten an unvorstellbar heißen Hochöfen und stellten Stahl her für einen Mann, der Alfred Krupp hieß, ganz viel Geld hatte und in einer Villa im Hügelpark hoch über dem Baldeneysee fast wie ein König wohnte.  Hannah fand das alles so spannend, dass sie Mutti schon mehrmals gebeten hatte, mit ihr in das Backsteingebäude zu gehen. Vergeblich. "Da kannst du doch gar nichts sehen, Hannah. Die Kohle wird in Zechen abgebaut und die stehen ganz woanders." 

An diesem Tag aber war Mutti offenbar besonders guter Laune. Sie hatte im Ausverkauf ein Somerkleid gekauft, das ihr gut passte und sehr günstig gewesen war. "Komm mal mit,  Hannah", sagte sie, "ich zeige dir die Paternoster. Vom Nebeneingang aus kann man sie sehen."

Fasziniert spähte Hannah wenig später durch die Eingangstür des Backsteingebäudes. Im Hintergrund der Eingangshalle entdeckte sie große, nach vorn offene Kisten, in denen Menschen auf und ab fuhren. 

„So ein Paternoster hält nie an“, flüsterte Mutti, "aber er fährt langsam genug, dass man ein- und aussteigen kann. Es macht Spaß, darin stehen zu bleiben und durch den dunklen Speicher oder den Keller zu fahren.  Man könnte stundenlang im Kreis fahren, wenn man wollte."

Dann zeigte sie auf den Glaskasten in der Nähe des Eingangs, in dem Männer mit grauen Anzügen und grauen Gesichtern saßen. „Das sind Zechenkumpel, die nicht mehr untertage arbeiten können“, erklärte Mutti. „Von all dem Dreck da unten bekommt man nämlich eine Steinstaublunge und dann kriegt man nur noch sehr schlecht Luft. Wer noch ein bisschen arbeiten kann, wird dann hier mit etwas Glück Pförtner oder Bote. Die Pförtner passen auf, dass niemand hineinkommt, der nicht hineingehört, und die Boten tragen die Post durchs Haus.“
Hannah nickte. Endlich hatte sie einmal in das Kohlehaus hineinsehen dürfen und für den Moment hatte sie keine Fragen mehr. Am nächsten Tag aber überredete sie ihren kleinen Bruder Harald, mit ihr ohne Mutti heimlich zum Glaskasten zu gehen und von außen an die Scheibe zu klopfen, um die Kohlemänner dahinter ein kleines bisschen zu ärgern. Die Geschwister klopften so lange, bis endlich einer der Pförtner schimpfend herauskam. Kreischend liefen Hannah und ihr Bruder in ihren billigen Gummisandalen davon, guckten sich im Laufschritt um, sahen den grauen Anzug über glänzend schwarzen Schuhen über den Asphalt eilen und den rot gewordenen Kopf wie eine riesige Tomate darüber. Sie rannten so schnell, dass sie schon am Tor des alten Krupp-Friedhofs gleich um die Ecke außer Atem waren und kurz anhalten mussten, um, die Rücken gebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, zu verschnaufen. Zum Glück hatte der graue Mann wieder abgedreht. Sicher bekam er keine Luft mehr mit seiner komischen Lunge, dachte Hannah, und ihr wurde ganz heiß, weil sie so ein schlechtes Gewissen bekam.
Dass Hannah die grauen Herren in Diensten der Ruhrkohle einmal sehr regelmäßig sehen würde, ahnte sie noch nicht im mindesten. Stattdessen träumte sie sich im Vorbeigehen hinter die Mauern des alten Friedhofs am Kettwiger Tor, den Papa einfach Krupp-Friedhof nannte, weil Mitglieder der berühmten Familie dort begraben worden waren. Über diese Mauern wäre sie so gern wie ein Vogel geflogen, um zu sehen, was dahinter war. In Gedanken sah sie sich ganz allein im Schatten der hohen Bäume sitzen, deren Wipfel über den Mauerkronen in die weißen Wolken ragten. Von Mutti wusste sie, dass das Tor meistens verschlossen war und dass dahinter gerade Gruseliges passierte: Die Skelette der Toten wurden nach und nach ausgebuddelt und abtransportiert, weil man Platz brauchte für einen Tunnel, da der Ruhrschnellweg, eine neue, breite Autostraße, größer als alle, die Hannah kannte, gerade gebaut wurde und an dieser Stelle unterirdisch verlaufen sollte.
Hannah fand es gemein, dass die alten Mauern und die hohen Bäume einfach verschwinden sollten und die toten Menschen in ihren Särgen nicht in Ruhe gelassen wurden, nur damit die Autos schneller fahren konnten. Noch mehrfach war sie allein zum Tor gegangen, nachdem Mutti die Geschichte erzählt hatte, um nach den Toten zu sehen, doch jedes Mal war es fest verschlossen.
„Wenn du nicht so eine Memme wärst, würdest du einfach rüberklettern“, sagte Rosa. „Du solltest eben nicht so schrecklich brav sein. - Angsthase, Angsthase!“
Hannah beschloss, gar nicht hinzuhören. Was hatte Rosa schon für eine Ahnung. Wenn sie nicht brav wäre,  würde Mutti sie nicht mehr liebhaben, sie hatte es gesagt, und das war einfach unvorstellbar. Und außerdem war Hannah ja gar nicht immer brav. Oft genug ging sie heimlich weiter von zu Hause weg, als sie eigentlich durfte, weil sie es einfach so furchtbar spannend fand, alles genau und in Ruhe zu betrachten und immer wieder Neues zu entdecken. Aber ganz heimlich. Damit Mutti nichts merkte und sie weiter liebhaben konnte.



Kleine Übung für euch: Erinnert euch an eure Kindheit, eure Jugend, eine besondere Phase eures Lebens. Was habt ihr insgeheim gemacht und wie habt ihr es verborgen. Seid ihr aufgeflogen? Wie habt ihr euch gefühlt. Schaut mal ein wenig genauer hin. 

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

 

 


2 Kommentare:

  1. Jeannette
    Kaum vorstellbar, daß am A 40 Tunnel der Kruppfriedhof war. Da ich erst Anfang der 2000 er Jahre ins Ruhrgebiet und nach Essen gekommen bin, kenne ich diese alte Stelle nicht und auch nicht die Zechen in Betrieb. Ist ja alles Museum heute. Statt Kohlenstaub gibt es heute ziemlich viel Feinstaub in Essen. Ich kann mir vorstellen, wie das Kohleleben früher so spannend war für Kinder wie die kleine Hannah.

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    1. Ja, Jeannette, die Zeiten ändern sich. Wie schade, dass es keine Zeitreisemaschine gibt. Ich würde mich so gern hineinsetzen und noch einmal gucken gehen in der Vergangenheit. :-)

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Die Hannah-Trilogie wird fortgesetzt - Hannah & der kleine Camper Oddi

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