Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!
Der größte Teil des Lebens besteht aus Alltag und eines der wichtigsten Alltagsthemen ist Essen. Alltäglich eben, doch durch unseren ganz persönlichen Blick darauf und indem wir die richtigen Worte finden und innere Bilder erzeugen, wird auch das für andere interessant. Besonders aus der Sicht eines Kindes. Hoffe ich doch mal:
Die Kinder in Afrika und die Sache mit dem Blubb
Hannah war enttäuscht und als sie am Morgen nach Muttis Gespräch mit Fräulein Voss erwachte, war der Kummer noch immer da. Abends hatte sie noch Papa gefragt, doch der hatte nur gesagt: „Tu nur immer schön, was Mutti sagt. Mutti ist viel klüger als ich. Und sie meint es nur gut mit dir.“ Als Hannah darüber nachdachte, begann ihr Magen heftig zu knurren. Und damit besann sie sich auf den einzigen Trost, der einigermaßen leicht verfügbar war: Essen.
Die Liebe zum Essen hatte sie von Mutti geerbt und einen guten Grund, etwas zu futtern, gab es fast immer – selbst ohne Kummer. Bei Tisch aß Hannah, weil alle anderen auch aßen. In der Schule aß sie während der Pause, weil es üblich war, mehr aber noch, weil sie Trost brauchte. Sie hatte nicht den Mut, einfach mit den andern Kindern zu spielen, überzeugt davon, die fänden sie blöd. Was für ein gutes Gefühl war es da doch, unterm Kastanienbaum ihre Stulle aus dem Pergamentpapier zu wickeln. Was für eine Erleichterung, den Lebenwurstduft einzuatmen und in das Brot zu beißen, das mit Margarine ebenso dick wie mit Wurst bestrichen war. Sie kostete vom halben Apfel, der braun geworden war an der Schnittstelle, doch so spritzig, so herrlich süß schmeckte, so dass sie sich gleich etwas weniger alleingelassen fühlte. Ulla, die oft neben ihr stand und ebenfalls aß, zählte nicht so recht. Sie war einfach zu still und langsam, um Hannahs Laune aufbessern zu können, denn still war Hannah selbst. Sie sehnte sich nach Abwechslung und Herausforderung. Sie träumte davon, zu den lebendigen, temperamentvollen Kindern zu gehören, die ohne Angst auf Bäume kletterten und einander mit Kastanien bewarfen, die braungebrannte Arme hatten, während Hannahs Haut eher rot wurde, und die doppelt so schnell liefen wie sie. Doch solche Freunde und Freundinnen gab es für sie einfach nicht. Keiner von ihnen kam auf Hannah zu und sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als sie selbst anzusprechen. Mutige Jungen und Mädchen waren eben mit anderen tollen Kindern zusammen. Dem Leberwurstbrot in der Dose aber war egal, wer es aß. Niemand nahm es ihr weg. Es war für Hannah bestimmt und nur für sie da.
Trostfaktor Essen - fast immer verfügbar.
Was echter Hunger war, hätte Hannah nicht sagen können. Oma, Mutti und Papa aber kannten ihn aus eigener, leidvoller Erfahrung. Oft genug hatten sie davon gesprochen. Deshalb sagten sie Sätze wie „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt“ oder „Denkt an die armen Kinder in Afrika!“ Oder „Bei uns wird nichts weggeworfen!“ Und so hatte Hannah sich längst daran gewöhnt, ihren Teller jedes Mal leerzuessen, damit am nächsten Tag die Sonne scheinen konnte, und mit angefeuchteten Fingern auch noch den letzten Brot- oder Kuchenkrümel aufzunehmen und sich sorgfältig in den Mund zu schieben. Nur bei Graupensuppe mit verkochtem Gemüse, durchsetzt von zähen, grau aussehenden, sehnigen Fleischstücken, streikte sie. Dieses Gericht gruselte sie ebenso wie bitterer Spinat, der angeblich so gesund war und damals leider nicht einmal den Hauch des cremigen Blubbs besaß, den Verona Feldbusch eines Tages bewerben würde.
Zucker dagegen war einfach himmlisch - wichtiger als jeder Blubb. „Zucker zaubert!“, hieß es in den Illustrierten, und die Fortsetzung „Pfund um Pfund“, ausgesprochen von lachenden, eher pummeligen Damen, würde schon bald dazuerfunden werden. Wenn sie nicht gerade zum Zahnarzt mussten, machte Zucker Hannah und ihre Geschwister auf einfache Weise und zuverlässig glücklich. Mit Sanella bestrichenes, mit Zucker bestreutes Graubrot, zumeist Kassler, gab es bei den Brauns bereits zum Frühstück und dann noch mal gegen den kleinen Hunger zwischendurch. Sanella war billiger als Rama, schmeckte aber fast genau so, und im frischen, weichen Kasslerbrot war nicht ein einziges Korn zu sehen, weshalb es zusammen mit dem Zucker rutschte wie von selbst. Einmal die Woche bereitete Mutti Milchreis zu, der aufgekocht und dann unterm dicken Federbett zu Ende gegart wurde. Ebenfalls einmal die Woche gab es Pfannkuchen, der in der gusseisernen Pfanne zubereitet wurde, die niemals abgewaschen wurde. Oder Milchsuppe, Grießsuppe, Brotsuppe - alles mit Rosinen und reichlich Zucker und Zimt. Wer wollte, bekam Himbeersirup dazu. Am Sonntagnachmittag brachte Mutti süße „Schuhsohlen“ auf den Tisch, die mit Hirschhornsalz gebacken und mit Sahne gefüllt wurden, Sandkuchen unter einer dicken Schicht von Zitronenzuckerguss, Käsekuchen vom Blech, in den sie zuckersüße Aprikosenhälften aus der Dose hatte plumpsen lassen, oder einfach nur Butterkuchen, auf dem die Zuckerkörner nur so knirschten. Hauptsache süß ...!
Mokkabuttercremetorte war etwas Besonderes. An besonderen Festtagen kam sie als Krönung auf den Tisch. Die ganze Familie liebte den dreigeteilten, dünn mit Creme bestrichenen Wiener Boden, verfeinert mit Erdbeermarmelade, belegt mit vollreifen Bananenscheiben, rundherum mit Creme bestrichen und zum Schluss üppig verziert mit fetten Tupfern, in die jeweils eine Schokoladenmokkabohne hineingesteckt wurde. Das reich verzierte Mittelstück wurde rund herausgeschnitten. Die verbleibenden zwölf Tortenstücke mussten mit stumpfen Spitzen klarkommen. Und eben dieses Mittelstück wollten alle haben – bis auf Papa natürlich, der sich wie immer bescheiden zurückhielt. Meistens bekam er trotzdem eine Hälfte davon. Mutti schob sie ihm ungefragt auf seinen Teller und aß die andere selbst. Papa teilte seine Hälfte mit den Kindern. Nur wenn ein Kind Geburtstag hatte, bekam es eine ganze Hälfte des Mittelstücks für sich allein oder sogar das ganze Mittelstück. Ein wahrlich seltener Genuss. Nachtisch gab es dagegen täglich. Hannah liebte Majala-Pudding, ein Dessert, das sein durchdringendes Orangenaroma durch eine zum Schluss zugegebene Gelantine-Kapsel bekam und auf der Verpackung fürs Pulver einen niedlichen Esel zeigte. Schoko- oder Vanillepudding, gekocht oder einfach kalt mit dem Mixer zubereitet, oder Quark, verrührt mit Büchsenmilch und Zucker waren ebenfalls beliebte. Sie alle mochten Götterspeise oder Rote Grütze mit Sago, garniert mit Vanillesoße, oder einfach Obst aus der Dose. Doch Nachtisch musste man sich erarbeiten. Wer die ekelige Graupensuppe, Kochfisch, bitteren Spinat oder Panhas, also angedicktes Blut mit Stückchen fetten Specks darin, oder gar Bries, die angeblich besonders zarte Thymusdrüse eines Kälbchens, nicht essen wollte, dem war die Konsequenz klar: „Erst aufessen. Sonst gibt‘s keinen Nachtisch!“
Der Gang zum Milchbauern war für Hannah eine Herausforderung. Es war ihre Aufgabe, täglich die frische Milch, die für Pudding, Milchreis, Pfannkuchen, Brotsuppe mit Rosinen und für andere süße und vergleichsweise billige Gerichte dringend benötigt wurde, zu holen. Den Holzgriff der leeren, leicht verbeulten Aluminiumkanne in der Hand, betrat sie den Laden, um wenig später, immer wieder neu fasziniert, zu sehen, wie der Mann im weißen Kittel, der auch Emmentaler, Edamer, Gouda und Quark verkaufte, gleichmütig den Hebel einer Maschine senkte. Das war der spannende Moment. Im nächsten Augenblick ergoss sich ein sämiger, cremefarbener Strahl in die Kanne. Der Milchbauer füllte sie bis zum Rand.
„Nun aber schön langsam“, sagte er und drückte ihr die volle, schwere Kanne in die Hand, „pass auf, dass du nicht kleckerst.“
Mit zusammengekniffenen Lippen trug Hannah ihre Fracht heim - nicht ein einziger Tropfen durfte verloren gehen. Die Zwillinge von nebenan hatten keine Angst. Sie schleuderten die volle Kanne manchmal mit Karacho herum und nichts lief heraus. So was hätte Hannah sich nie getraut. Auf keinen Fall wollte sie Mutti und Papa enttäuschen. Die beiden sollten stolz auf sie sein. Und zu ihr halten. Immer. Leiden taten sie das nicht.
Niemals würde Hannah den Moment vergessen, in dem sie ihren kleinen Bruder Harald unterm Küchentisch entdeckte, wo er gerade ihrem Schokoladenosterhasen ein ganzes Ohr abbiss. Wochenlang hatte sie das Tier in der Küchenvitrine angebetet, während ihre Geschwister ihre Schokogeschöpfe schon längst des goldenen Folienkleides beraubt und vertilgt hatten. Hannah fing an zu heulen. Genügte es nicht, dass ihr blöder Bruder weniger im Haushalt helfen musste als sie. Jetzt fraß er auch noch ihren Schokohasen ...!
Mutti kam herbei, schimpfte kurz mit Harald, der nun seinerseits heulte, nahm ihm das geschundene Tier ab und drückte es Hannah in die Hand. Fassungslos starrte sie den Hasen an. Das war doch nicht mehr ihr Hase. Was sollte sie denn mit einem kaputten, angesabberten Hasen anfangen?! Das Leben war so schrecklich ungerecht ...! Was bleib denn noch, wenn nicht einmal das Süße sicher war?
Gut, dass es wenigstens beim Kindergeburtstag reichlich Süßes für alle gab. Da saß Hannah mit den Geburtstagsgästen und Geschwistern dichtgedrängt auf der blauen Eckbank mit den beiden Holzstühlen in der Küche, bei reichlich Zitronensprudel und „Hundeschnauze“, dem unverzichtbaren palmin-zucker-kakao-getränkten rechteckigen Butterkeks-Kuchen, von Rum-Aroma geadelt. Als Geburtstagskind bekam sie sogar drei dünne Scheiben davon ab und die anderen nur zwei. Nach dem Essen gab es Spiele. Das Beste davon hatte ebenfalls mit Essen zu tun. Eine dick in Zeitungspapier eingeschlagene, mit Bindfaden umwickelte Tafel Schokolade war mit Messer und Gabel aus ihren Umhüllungen und vom Bindfaden zu befreien. Loslegen durfte, wer eine Sechs gewürfelt und danach eiligst Mütze, Schal und Handschuhe angelegt hatte. Das galt auch nur, wenn einem das mühsam Eroberte nicht mit der nächsten Sechs wieder entrissen wurde. Es dauerte endlos. Doch irgendwann lag die Schokolade nackt und bloß auf dem wachstuchbedeckten Küchentisch. Das Wasser lief allen Kindern in Nullkommanix im Mund zusammen. Mutti, die das Spektakel mit sorgenvollem Blick beaufsichtigte, damit sich bloß keiner mit Messer und Gabel verletzte, rief eins ums andere Mal: „Denkt dran. Immer bloß ein halbes Stückchen.“
Doch wenn nur noch wenige Schokoladenstückchen im Stanniolpapier zurückgeblieben waren, griff Mutti mit den Fingern danach und sagte: „So, das ess ich jetzt. Wascht euch die Hände und Gesichter und dann spielt ihr was anderes.“
Es gab Tage, an denen Hannah und ihren Geschwistern das Essen einmal so gar nicht schmecken wollte. Dann begann Mutti mit dem Landschaftsbau. * Das war ein sehr hilfreiches Spiel, auch wenn Oma immer sagte: "Mit Essen spielt man nicht!" Mutti machte auf ihrem Teller vor, wie man Berge aus Kartoffelpüree auftürmte und eine Wiese aus Spinat daneben entstehen ließ. Kleine Speckwürfel in der Wiese wurden zu leuchtenden Mohnblumen. Gab es noch einen Rest Bratensoße vom Sonntag, wurde sie zum schaurigen Moor. Das gefiel Hannah Ihre Fantasie sprühte Funken und das Essen klappte ganz von allein.
Essen – Pflicht und Vergnügen, mal mehr oder weniger. Aber meistens half es, wenn Hannah traurig war.
* Die ganze Geschichte zum Landschaftsbau findet ihr als vollständige Erzählung über den Link.
Hier eine neue Aufgabe für euch: Emotionales Essen ist weitverbreitet. Wie ist und war das bei euch? Macht mal folgenden Versuch: Schreibt fünf Lieblingsgerichte auf und fünf Dinge, die ihr gar nicht mochtet. Dann geht ihr die Liste Punkt für Punkt durch. Schließt kurz die Augen und versucht, bei jedem Gericht oder Nahrungsmittel auf eure Gefühle zu achten. Kommen Erinnerungen hoch? Welche Erlebnisse verbindet ihr mit Duft, Geschmack, was immer eure Sinne gerade beschäftigt? Schreibt es mir gern in den Kommentar. Ich bin gespannt ...!
Bis bald sagt Eure
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