Finde hier jede Menge lebendiger Inspiration und Tipps, um deine Lebenserinnerungen, deine eigene Biografie zu schreiben und in Form zu bringen! Geschrieben von einem Kind der Fünfziger Jahre, geboren im Kohlenpott. Gedacht FÜR DICH!

Donnerstag, 13. Mai 2021

Lebensstationen als bunte Grafik oder: Hannahs 1. Schultag

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

In jedem Leben gibt es Augenblicke und Tage, die man nicht vergessen wird. Sie werden wichtig bleiben, solange unser Geist noch einigermaßen funktioniert. Entscheidende Eckpunkte unseres Lebens. Möchtet ihr eure Eckpunkte jetzt gleich einmal auf einen Blick sehen? Na, dann los:  

Nehmt euch ein großes Blatt, zeichnet unten von links nach rechts eine Linie darauf, schreibt die Jahreszahl eurer Geburt ganz links unter die Linie. Nun setzt ihr in gleichmäßigen Abständen weitere kleine Striche auf die Linie und schreibt darunter die nächste Jahreszahl, zehn Jahre später. Für Hannah sähe das so aus: 1955, 1965, 1975, 1985, 1995, 2005, 2015. Danach läuft die Linie erst einmal aus, denn 2025 muss ja erst noch kommen. Dann denkt ihr über entscheidende Ereignisse nach.  Wahrscheinlich fällt euch schon beim Betrachten der Jahreszahlen sofort etwas ein. Zum Beispiel: Dann und dann kam ich in den Kindergarten, dann in die Schule, dann in die höhere Schule. Schulabschluss, Ausbildung oder Studium, vielleicht Auslandsaufenthalte, Praktika, erste Anstellung. Daneben und dazwischen die amourösen Stationen: erster Kuss, erste Liebe, Verlobung, Heirat, Geburt der Kinder, aber vielleicht und zunehmend wahrscheinlich auch Trennungen und Verluste. Falls es einmal etwas eng wird angesichts der Fülle von Ereignissen, zeichnet ihr einfach, von der Linie aufsteigend, Luftballonschnüre. Die können nach Belieben und Platzangebot Kurven machen und enden in Luftballons, die sich in unterschiedlicher Höhe befinden. So bekommt ihr viele davon unter. In die Ballons schreibt ihr das jeweilige Ereignis, wenn ihr wollt und könnt mit genauem Datum. Wer mag, malt das Ganze dann noch bunt. Und wenn es richtig gut geworden ist, rahmt ihr eure Lebenslandschaft vielleicht sogar und hängt sie irgendwo, womöglich mit Fotos garniert, an die Wand. An einen Ehrenplatz. Schließlich geht es um euer absolut einzigartiges Leben. Niemandem steht es näher als euch.

Für Hannah war ihre Einschulung ein besonders einschneidendes Ereignis. So lange schon hatte sie darauf gewartet:


Endlich Schule ...! 

 
Tante Rut hatte Hannah ein Osterhasen-Bilderbuch geschickt, das zeigte, wie der Osterhase und seine Helfer mit tropfenden Pinseln und satten Farben Ostereier anmalten. Da war so viel Rot, Gelb, Grün, Blau! Das sah einfach toll aus. Die kleinen Hasen saßen in der Schule und lernten, wie es ging mit der Farbenpracht. In so eine Malschule würde ich auch gern gehen, dachte Hannah. Noch wichtiger aber war es ihr, endlich Lesen zu lernen. Malen allerdings kam gleich danach. Farben konnte Hannah nicht widerstehen.
Ausmalbücher waren beliebte Mitbringsel für Kinder. Es war jedes Mal ein wunderbarer Moment, sich das schönste Bild darin auszusuchen, die Farben auszuwählen und es so sorgfältig auszumalen, dass keine einzige Linie überschritten wurde und kein Fitzelchen vom Untergrund weiß blieb. Wann immer Hannah einen der Stifte anspitzte und die hübschen Spiralen aus abgeschabtem Holz mit einem Hauch Farbe an der Spitze zwischen den Fingern zerrieb, war sie einfach nur froh. 

Hannah liebt Farben und Buchstaben über alles.

Alles, was man mit den eigenen Händen erschaffen konnte, machte sie glücklich. Selbstgeschriebene Buchstaben gehörten dazu. Es juckte ihr in ihren kleinen Fingern. Bald würde sie nicht mehr mit Bilderbüchern vorliebnehmen müssen oder sich, was viel zu selten geschah für ihren Geschmack, aus Grimms Märchenbuch oder anderen Büchern vorlesen lassen. Schon bald würden nicht einmal mehr die Bücher im Wohnzimmerschrank hinter den bleiverglasten Scheiben ein unlösbares Rätsel für sie darstellen und in der Stadtbücherei, die sie neuerdings regelmäßig mit Mutti und ihren Geschwistern besuchte, würde sie richtige Bücher ausleihen können, immer noch mit einigen Bildern, die ihre Fantasie entzünden würden, das schon, vor allen Dingen aber voller Buchstaben. Ganz viele Bücher. Berge von Büchern.

 Und dann, endlich, war es soweit. Vier Wochen nach ihrem sechsten Geburtstag stand Hannah zappelnd vor Aufregung in ihrem königsblauen Sonntagskostüm in der Diele, den fast leeren Lederranzen auf dem Rücken, in dem die Schiefertafel und der Griffelkasten klöterten.
„Wir sind spät dran!“ Mutti eilte aus der von Papa gebauten Eltern-Schlafecke hinterm Vorhang, den sie aus Stoffresten genäht hatte, in die Diele, knöpfte die Jacke ihres dunkel-melierten Kostüms zu, das streng nach Mottenkugeln roch, setzte den Kapotthut auf und hängte sich die Handtasche mit dem Bügelverschluss in die Armbeuge. „So, wir können! Ach ... beinahe hätte ich ja das Wichtigste vergessen.“ Sie eilte noch einmal zurück, öffnete die Kleiderschranktür, bückte sich, zog etwas hervor und kam zurück. „Das hier ist für dich!“ Erwartungsvoll sah sie Hannah an. "Na, gefällt sie dir?" Die Schultüte in Muttis Händen war leuchtend rot, mit Glitzer und einem Engelskopf verziert. Ein bisschen klein vielleicht, dachte Hannah, aber wunderschön. Sie  nickte. Stolz und liebevoll legte sie die Tüte in ihre Armbeuge – wie ein Baby.
„Jetzt bist du ein richtiges Schulkind!“, sagte Mutti. „Nun aber schnell!“ Mutti nahm Iris auf den Arm und schob mit der freien Hand Harald vor sich her. „Los, los, deine Schwester hat ihren großen Tag.“
Treppengetrappel. Unten trug Mutti den Sportwagen vom Treppenhaus aus nach draußen und setzte Iris hinein. Der vierjährige Harald* wurde angehalten, sich am Kinderwagengriff festzuhalten. Eine gute Viertelstunde später hatten die vier, ein wenig außer Atem, das wuchtige Backsteingebäude mit den beiden kleinen Türmen erreicht: Hannahs Schule. Mutti schnaufte. „Meine Güte, das ist ja noch anstrengender als bis zum Kindergarten. Ab morgen gehst du aber allein, Hannah.“
Waaas?! Ganz allein??! In Hannahs Magen krampfte sich etwas zusammen. So gern sie allein die nähere Umgebung der Wohnung untersuchte, so weit weg von daheim hatte sie sich allein noch nie getraut. Doch jetzt war keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Jetzt war sie vor allem neugierig.
Auf dem Schulhof ließ Hannah ihre Blicke schweifen. Asphalt und hohe Bäume und am Ende des Asphalts, hinter einem Zaun, ein kleiner Schulgarten, mit ein paar Möhren, Petersilie und Ringelblumen schütter bewachsenen. Die Erde wirkte karg und festgetrampelt.
Aus gebührendem Abstand betrachtete sie die anderen Kinder, die wartend da standen, ebenso feingemacht wie sie. Hannah kannte keines der Kinder. Mütter unterhielten sich miteinander. Auch sie kannte Hannah nicht. Mehr gab es nicht zu sehen. Sie wollte gerade anfangen, sich zu langweilen, da machte es „Rrrrrrrgggg!!!“
„Es geht los.“ Mutti gab ihr einen kleinen Schubs, nahm Iris aus dem Kinderwagen und Harald an die Hand. Für Hannah war keine Hand mehr frei.
Die honigblonde Klassenlehrerin mit den himmelblauen Augen hieß Fräulein Vogt und Hannah verliebte sich sofort in sie. Sie war jung und schlank und Hannah fand sie viel hübscher als ihre Mutter. Lächelnd stand sie vor dem Klassenraum, um Kinder und Mütter zu begrüßen. Alle strömten hinein und das Fräulein schloss die Tür von innen. Obwohl Hannah ein wenig Angst hatte vor all dem Unbekannten, fühlte sie sich gleich sonderbar wohl. Die hohen Fenster, die zur Straße zeigten, ließen das Sonnenlicht herein, das die Staubkörner im Klassenraum zum Tanzen brachte. Topfpflanzen in unglasierten Tontöpfen füllten die Fensterbänke. Schränke mit Büchern, einem Globus und einem ausgestopften Tier, das aussah wie der Iltis in Brehms Tierleben, füllten die Rückwand. Vorn die große Schiefertafel, daneben ein Kartenständer.
Ein Fotograf begann damit, die ABC-Schützen, einzeln an einem Tisch neben dem Lehrerpult sitzend, hinter einer kleinen Tafel abzulichten, auf der in schöner, runder Schrift drei Worte standen, die Hannah noch nicht lesen konnte. Schon war sie an der Reihe. Der große Mann drückte ihr einen Griffel in die Hand. „So, festhalten und jetzt tuste so, als wennze schreibs'. Und schön läääächeln, ja?!!!“
Hannah fand es blöd, einen Griffel zu halten und nur so tun, als wollte sie schreiben, aber sie gehorchte. Vielleicht fand der liebe Gott so was ja weniger schlimm, als wenn man richtig log.
„Was steht denn da?“, fragte sie schüchtern und zeigte auf die kleine Tafel, doch der Mann rief„Weiter geht’s!“ und gab keine Antwort.
Endlich war er wieder weg. Fräulein Vogt bat die Mütter hinaus. Die Väter waren ohnehin nicht mitgekommen, weil sie arbeiten mussten. Nun waren die frischgebackenen Schulkinder mit dem Fräulein allein. „Ich lese euch jetzt ein Märchen vor“, sagte die neue Lehrerin.
Hannah hing an ihren Lippen. Ausgerechnet an der spannendsten Stelle schlug sie das dicke Buch zu. „Morgen werdet ihr erfahren, wie es weitergeht.“
Oh nein, bitte nicht, dachte Hannah. Sie wollte noch bleiben. Sie wollte am liebsten den ganzen Tag lang bleiben. Und die Nacht noch dazu.
„Husch, husch, jetzt aber raus mit euch. Bis morgen.“
Mutti wartete ungeduldig mit Harald und Iris auf dem Schulhof. „Jetzt darfst du deine Schultüte aufmachen.“ Hannah wappnete sich innerlich. Vermutlich würde sie enttäuscht sein, denn sie bekam immer weniger, als sie sich wünschte, aber ihre Enttäuschung durfte Mutti auf keinen Fall bemerken. Hannah wollte nicht, dass Mutti traurig war. Sie faltete das Krepppapier auseinander und lugte in die Tüte. Ein paar Lutscher steckten darin, eine rosa-weiße Pfefferminzplatte und eine kleine Tafel Zitronenschokolade. Darüber war noch ganz viel Luft.
„Danke“, sagte Hannah und schluckte.
„Zu Hause habe ich noch eine Überraschung für dich“, sagte Mutti.
Und tatsächlich, da wartete ein nagelneues Federmäppchen auf Hannah, für später, wenn sie nicht mehr mit dem Griffel schreiben würde. Behutsam nahm sie es entgegen, um es zu untersuchen. Gummischlaufen hielten alles an Ort und Stelle: fein säuberlich gespitzte Buntstifte, ein rosafarbenes Radiergummi, das süßlich duftete, einen Anspitzer, ein kleines Lineal, Tintenpatronen und sogar einen Füllfederhalter.
„Danke, Mutti, danke, danke, danke!“
„Wenn Papa daheim ist, gehen du und ich den Schulweg noch einmal ab, damit du morgen Bescheid weißt.“
Hannah schluckte. Dann nickte sie. Dann fiel ihr die kleine Tafel in der Schule wieder ein. „Du, Mutti, was stand denn auf der Tafel bei dem Fotografen?“
„Da stand: Mein erster Schultag. – Damit du diesen Tag niemals vergisst.“
Am Abend konnte Hannah nur mit Mühe einschlafen. Aufregend war er gewesen, ihr erster Schultag. Schön war er gewesen. Doch dass sie schon am nächsten Morgen allein gehen sollte, das ließ ihr Herz so sehr gegen ihre Rippen wummern, dass es weh tat. Wirklich allein? Allein. Furchtbar und irgendwie ganz toll ...!


* Mehr von Hannah gibt es in Band 1 "Hannah - Das Kind will nicht heiraten ...!", in Band 2 "Hannah - Ohne Mann ist auch echt blöd" und - demnächst - auch in Band 3. Viel Spaß beim Eintauchen in eine entschleunigte Welt. Übrigens, aus Harald wurde im Laufe des Schreibprozesses dann doch Dietmar. Alles entwickelt sich weiter, wenn man erst einmal loslegt - fast von allein.

Bis bald sagt eure

 Sigrid Ruth


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