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Samstag, 15. Mai 2021

Bedeutung der Familiengeschichte beim Schreiben der Autobiografie

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Manch einer würde sich vielleicht andere Eltern wünschen, aber seine familiären Wurzeln kann man nicht verleugnen. Unsere Familiengeschichte ist wichtig und prägend. Ohne Vater und Mutter wären wir ebensowenig auf der Welt wie ohne unsere Großeltern. Wir tragen in uns, was sie an uns weitergegeben haben durch ihre Gene, und sie haben unser Leben entscheidend mitbestimmt durch das, was sie uns vorlebten. Auf gewisse Weise prägen sie es bis heute, selbst wenn sie nicht mehr leben. Und so wird es auch in Hannahs allmählich Geschichte Zeit, ihre Eltern und Großeltern, ihre Kernfamilie und Vorfahren, ein wenig näher vorzustellen: 

Mutti und Papa
Mutti war immer da. Sie war sehr wichtig für Hannah. Hannah beobachtete genau, wie Mutti war und was sie tat. Sie sah zu, wie sie ihre brünetten Haare, die sie wegen ihrer Stärke Pferdehaare nannte, einmal die Woche auf Wickler drehte. Sie bemerkte, dass sie manchmal vor dem Spiegel in der schwarz-bunt tapezierten Diele stand, die Luft anhielt, den Bauch einzog und sich selbst mit fragendem Blick betrachtete. Sie hatte mitbekommen, wie sie zu einer Freundin sagte, dass sie wenigstens auf ihre wohlgeformten, kleinen Hände stolz sei. "Sonst bin ich ja vielleicht ein bisschen dick", hatte sie gesagt, "aber meine Hände, die gefallen mir." Sonntags streifte sie die Ringe über und legte die Kette an, die Papa ihr zu den Geburten der Kinder geschenkt hatte. Mutti hatte einen kugelrunden Bauch und keine Taille. Sie hatte knubbelige, blaue Krampfadern an den Beinen, bewegte sich möglichst wenig und hielt nichts von Sport, der mit Schwitzen und Muskelkater einherging. Hannah hatte Mutti niemals rennen sehen. Sie wusste, dass es Mutti schwerfiel, sich zu bücken, weil ihr der Bauch im Weg war, und dass ihr schwarz vor Augen wurde, wenn sie wieder hochkam. Mutti konnte nicht radfahren und nicht schwimmen. Sie bevorzugte Vergnügungen, bei denen sie sich ausruhen konnte. Sie las leidenschaftlich gern, Bücher und Zeitschriften wie Quick, Neue Revue oder Grünes Blatt.
Dass sie sich nur die zerfledderte Ausgabe des Lesezirkels leisten konnte, die alle anderen bereits gelesen hatten, war ein Wermutstropfen, den sie schluckte. Romane lieh sie in einem Geschäft in der Nachbarschaft aus. Auf der Vorderseite der Bücher dort waren bunte Bilder zu sehen, die starke Männer zeigten, die wiederum schöne Frauen fest in ihren Armen hielten. Die Blusen dieser Frauen waren viel tiefer ausgeschnitten als Muttis. Ihre Haare waren viel länger. Die Frauen hatten die Köpfe nach hinten gebogen, als würden sie befürchten und zugleich erhoffen, ganz bald von den starken Männern geküsst zu werden. Mutti hatte immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie darin las. Ebensogern hörte sie offenbar Musik. Hannahs Eltern besaßen Schallplatten mit Musik, die von der Liebe erzählte. Wenn ihr danach war, ging Mutti zur Musiktruhe, um eine der schweren Venyl-Schallplatten aufzulegen und zu lauschen, wie Rudi Schuricke "Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein" sang oder Conny Francis davon erzählte, dass die Liebe ein seltsames Spiel sei. Mutti summte mit, ihre Augen glänzten und zugleich sah sie ein bisschen traurig aus. Bei gutem Wetter legte sie ein Sofakissen ins geöffnete Küchenfenster, stützte sich mit verschränkten Armen darauf und beobachte, was draußen vor sich ging. Oder sie streute Reiskörner draußen auf die Fensterbrüstung und sah zu, wie die Tauben kamen und sie gurrend fraßen.
Am glücklichsten schien Mutti zu sein, wenn sie selbst aß. Sie konnte ein Leberwurstbrot oder ein Stück Buttercremetorte mit drei Bissen herunterschlingen, je fetter, desto besser. Das sah man.
Ihr Gesicht hätte hübsch sein können, wie auf den alten Fotografien, doch mit der Zeit war es aufgedunsen und teigig geworden. Mutti würde Hannah nie verraten, wie schwer sie war, und Hannah ahnte, dass sie sich für ihre Figur schämte. Einmal erlaubte Mutti sich einen Scherz dazu. Sie verschluckte sich so heftig an einer hastig gegessenen Marzipankartoffel, dass sie, kaum wieder zu Atem gekommen, japsend und lachend sagte: „Eines Tages wird auf meinem Grabstein stehen: Sie starb an einer Marzipankartoffel. - Hahaha!“ Der Gedanke gefiel Hannah gar nicht. Mutti sollte für immer leben. Deshalb schrak Hannah auch immer zusammen, wenn Mutti rief: "Nun macht doch nicht so einen furchtbaren Lärm! Nicht zum Aushalten. Das bringt mich noch mal um!" Dann war Hannah ganz schnell still und versuchte, auch ihre Geschwister zur Ruhe zu bringen.
Hannah wusste, dass ihre Mutter nicht gesund war. Sie besaß einen großen Vorrat an Tabletten und Tropfen: zum Entwässern, zum Abführen, fürs Herz, gegen ihren hohen Blutdruck und ein Mittel namens Valium, das für stärkere Nerven sorgen sollte. Mutti brauchte Ruhe, ganz viel Ruhe. Grelles Licht konnte sie auch nicht vertragen. Überhaupt war Mutti ein durch und durch ängstlicher, empfindlicher Mensch, der viel Rücksicht verlangte. Sie besaß keinen Führerschein und wenn sie auf dem Beifahrersitz saß, durfte Papa nicht mehr als siebzig auf dem Tacho haben, nicht einmal auf der Autobahn. Dass das mit der Angst mit den Bomben im Krieg zu tun hatte und mit Hannahs Oma Paula, wusste Hannah noch nicht, auch wenn Oma Mielchen, Papas Mutter, manchmal so Andeutungen machte, doch eines Tages würde ihr Mutti erzählen, wie alles gewesen war. Wenn Mutti ihre Angst für eine Weile vergaß, wurde sie kreativ. Sie tippte auf der alten, schwarzen Schreibmaschine kleine Geschichten für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, kurz WAZ genannt, und platzte fast vor Stolz, wenn sie abgedruckt wurden. Sie bemalte Tischdecken mit Stoffmalfarben und gewann fast immer, wenn die Familie Gesellschafts- oder Schreibspiele machte, was wiederum Iris regelmäßig zum Heulen brachte und sie veranlasste, heimlich, über Stunden, „Umdrehen“ zu trainieren, eine Art Memory, das mit einem Rommé-Blatt gespielt wurde. So lange, bis sie gewann.

Hannah hatte ihre Mutter sehr lieb und auch wieder nicht. Manchmal ekelte sie sich sogar vor ihr.
Das Schlimmste war, wenn Mutti auf ihr Taschentuch spuckte, um eine Schmutzspur aus Hannahs Gesicht fortzureiben. Wenn Mutti sie umarmte, nahm ihr Busen ihr Sicht und Atem. Ihr Geruch nach saurer Milch, vermischt mit Schweiß und dem Duft von 4711 Echt Kölnisch Wasser, das sie in einen Flakon umgefüllt hatte und mit Hilfe einer stoffbezogenen, eiförmigen Pumpe um sich herum versprühte, stieß Hannah ab. Doch zugleich tat es ihr weh, wenn sie sich ihr nach wenigen Sekunden entwand und spürte, wie sehr Mutti das enttäuschte.
Papa musste oft Überstunden machen, so dass Mutti viel mit den drei Kindern allein war. Hin und wieder kam eine Freundin zu Besuch, um mit ihr Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen, Eierlikör zu schlürfen, zu erzählen und zu lachen. Und manchmal kam Oma. Das gefiel Mutti nicht. Aber das war eine andere Geschichte.


Papa hatte Hannah noch viel lieber als Mutti, auch wenn sie wusste, dass das wahrscheinlich nicht gerecht war. Auch um ihn machte sie sich Sorgen. Während Muttis Blutdruck viel zu hoch war, war seiner zu niedrig. Manchmal fiel Papa nach Feierabend zu Hause in der Küche plötzlich um. Beim ersten Mal dachte Hannah, dass er nun tot sei, und fing sofort an, ganz fürchterlich zu weinen. Doch Mutti beruhigte sie: "Papa ist nur kurz ohnmächtig geworden. Gleich geht es ihm wieder besser." Und so war es. Leider hatte er nur am Sonntag richtig Zeit für sie. Von Montag bis Samstag musste er zur Arbeit. Dann kämmte er frühmorgens seine feinen Haare mit ein wenig Pomade nach hinten, zog den Schlips über dem weißen Oberhemd straff, küsste Mutti, Hannah und ihre Geschwister und verließ dann, oft gähnend hinter vorgehaltener Hand das Haus, die Aktentasche unterm Arm, in der seine Rauchwaren, belegte Brote und die Thermoskanne steckten. Eine Garage konnten die Brauns sich nicht leisten. Der altersschwache DKW parkte unter der Laterne vorm Haus. Papa war froh, überhaupt ein Auto zu haben, um damit nach Werden, ins Büro der Turngerätefabrik Holbeck, fahren zu können und möglichst noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück bei seinen Lieben zu sein. Er träumte von einem Schrebergarten, weil er den Garten hinterm Haus seiner Eltern so geliebt hatte, die vorn im Haus ihren kleinen Lebensmittelladen betrieb. Er schwärmte immer noch von den Äpfeln und den Pflaumen, die er körbeweise dort gepflückt hatte. Und von den Stachelbeeren, mit denen seine Mutter Tortenböden belegte. "Das schmeckte einfach herrlich. Einmal habe ich sieben Stück davon gegessen, bis ich Bauchschmerzen hatte." Das hatte er schon ganz oft erzählt und so glücklich und stolz dabei ausgesehen, als bekäme er gleich einen Orden.
Von Papa wusste Hannah auch, dass Mutti von Anfang an eifersüchtig gewesen war, weil er so begeistert war von seinem Töchterchen. Und das mit der Begeisterung beruhte auf Gegenseitigkeit. Papa war die erste große Liebe ihres jungen Lebens.Wenn sie neben ihm auf dem Sofa saß und seinen Arm um ihre Schulter spürte, fühlte sie sich geliebt und beschützt. Er gefiel ihr. Papa war schlank. Er roch nach Rasierwasser und Tabak. Sie bewunderte seine Geschicklichkeit und seinen Einfallsreichtum. sie mochte seine Stimme, die besonders schön klang, wenn er alte Fahrtenlieder sang. Am Brunnen vor de Tore zum Beispiel oder Die blauen Dragoner, sie reiten mit klingendem Spiel vor das Tor. Sie gönnte ihm längst von Herzen, dass er am Sonntag das größte Stück vom Braten bekam. Er war immer lieb zu ihr – nicht ein einziges Mal sah sie ihn aus der Haut fahren.


Hannah wollte alles tun, damit ihre Eltern glücklich waren und immer bei ihr blieben. Bei Mutti erschien ihr das noch schwieriger als bei Papa. Sie liebte das Lied, das eine Frau mit dem seltsamen Namen Lys Assia im Radio sang. In ganz komisch klingendem Deutsch erzählte sie von einem Mann hoch auf dem Seil, einem berühmten Zirkusclown, der angeblich "eine große Kinstler" war. Solch ein Künstler war ihr Papa nicht, aber Hannah glaubte, ihn mindestens ebenso lieb zu haben wie diese Lys ihren Papa. Sie hatte ihn sogar so lieb, dass sie manchmal ernsthaft glaubte, ihn vor Mutti beschützen zu müssen. In all ihrer Schwäche schien Mutti nämlich stärker zu sein als er. Hannah merkte genau, dass Papa tat, was Mutti wollte, um seine Ruhe zu haben, und wie sehr ihn das anstrengte. Er gab es sogar zu: „Friede, Freude, Eierkuchen – das ist mir am liebsten.“ Aus den Pralinenkästen, die die Brauns hin und wieder geschenkt bekamen oder sogar manchmal kauften, wählte er immer die Pralinen mit der Zartbitterschokolade aus, weil Mutti und die Kinder lieber Vollmilchschokolade mochten. Jahrzehntelang würden alle glauben, er äße mit Leidenschaft dunkle Schokolade, so dass man ihm bei jeder Gelegenheit Mandelsplitter in Zartbitter schenken und er sie eins ums andere Mal mit schrägem Lächeln entgegennehmen würde, bis er sich eines Tages endlich, in hohem Alter, erklären würde. Er war die Güte in Person. Ein Bilderbuchpapa. Ein Mann, der die Ruhe liebte so wie Hannah.



Nun meine Frage an euch: Ist in euren Köpfen ein Bild von Hannahs Eltern entstanden? Welche Informationen fehlen euch? Welche haltet ihr für überflüssig?

In Hannahs Volksschullaufbahn habe ich übrigens mit euch wieder einen kleinen Sprung gemacht. Später könnt ihr im E-Book genauer nachlesen, wie Hannah spielt und träumt, wenn sie frei hat, und wie sehr sie von ihrer geliebten Lehrerin enttäuscht wird, als sie sich zum erstenmal traut, einmal nicht brav zu sein. Und dann passiert auch noch dieses schlimme Malheur mitten im Klassenraum ...

All das habe ich erst einmal ausgelassen, denn nun soll Hannahs Geschichte Fahrt aufnehmen. Schon im nächsten Abschnitt möchte ich euch direktamente mit auf die Reise nehmen zu einem ganz entscheidenden Punkt in Hannahs Leben. Zu einer Entscheidung, die die ganze Geschichte ins Rollen bringt, und die Hannah spüren lässt, was es verdammt noch mal bedeutet, nur ein Mädchen zu sein.

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth


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