Der Weg durchs Leben - einzigartig auch bei Dir!
Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!
Ich glaube, ich war vierzig, als ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte, eine autobiografische Geschichte zu schreiben. Damals hatte ich wegen diffuser Beschwerden gerade meine erste psychosomatische Reha hinter mich gebracht, bei der ich mich, als treue Ehefrau eigentlich völlig untypisch für mich, in einen anderen Mann verliebt hatte. Neunzehn Jahre älter als ich, angesehener Bürger seiner Stadt, verheiratet und Vater von vier Kindern. Wenig später schlug das Schicksal auf grausame Weise zu: Meine Schwester fiel ins Koma und mein Erstgeborener erkrankte an Krebs. Oh Gott! War das etwa meine Strafe? Hatte ich genau das verdient, weil ich so treulos meinen Sehnsüchten gefolgt war? - Völlig verrückt. Natürlich nicht! Was für ein vermeintlich guter Gott würde sich so etwas Perfides ausdenken. Der etwa, an den ich damals, da ich einer offenbar deutlichen Fügung gefolgt und Mitglied einer freikirchlichen Gemeinde geworden war, heftig glaubte - was sich übrigens bald ändern sollte.
Mein Sohn überlebte. Er würde sein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen sein und seine Begleitung würde mich noch viel Kraft kosten, aber mir auch so manche Freude und Einsicht schenken. Meine Schwester überlebte nicht.
Jahre vergingen. Inzwischen war ich zum dritten Mal verheiratet und mit knapp 60 Jahren - in meinem dritten Beruf - endlich bei mir angekommen. Die Drei - meine Glückszahl? So gern wollte ich daran glauben. Als freie Journalistin ging es mir gut. Ich gab Kreativkurse, fand Anerkennung, hatte viele Freundinnen und einen gutaussehenden, hochintelligenten Mann, den ich bei seinen Tagungsreisen begleiten durfte und an dessen Seite sich mein Horizont enorm erweiterte. Ich hatte sehr viel Zeit für mich. All das genoss ich zwar, aber vermutlich nicht bewusst und dankbar genug. Als dieses Leben, das mir so gut gefiel, völlig unerwartet ein Ende nahm, dachte ich zunächst: Jetzt ist alles aus. Jetzt kann ich nur noch sterben. Niemals zuvor hatte ich mich so elend und alleingelassen gefühlt. Und plötzlich uralt ...!
Aber natürlich ging es weiter. Wozu war ich eine Kämpferin. Und ich hatte ja ein wunderbares Ventil für alle Nöte: mein Schreiben. Immer wieder hatte ich in belastenden Situationen zum Tagebuch gegriffen, hatte begeistert Morgenseiten nach Julia Cameron verfasst, hatte mir all meinen Kummer, meine Sorgen, Ängst, Fragen von der Seele geschrieben. Und gewonnen dabei. Immer wieder fand ich neuen Lebensmut, immer wieder eine Perspektive, einen neuen Hoffnungsschimmer, der zuweilen dermaßen zu strahlen begann, als sei gerade die Sonne aufgegangen. Auch wenn der nächste Schatten nicht weit war. War das alles nicht Grund genug, über mein Leben zu schreiben? Doch, das war es. Und so schrieb ich endlich los.
Mit der Zeit kamen über 1.000 Seiten zusammen. Viel zu viel, dachte ich, begann zu kürzen, ergänzte, hatte plötzlich noch mehr Seiten und beschloss eines Tages, eine Trilogie aus meinen Erinnerungen zu machen. So was hat es meines Wissens noch nicht gegeben. Vermutlich würde sich kein Verlag darauf einlassen, aber ich möchte ja ohnehin aufs E-Book setzen. Was sonst noch alles passierte beim Schreibprozess, werdet ihr in weiteren Blogbeiträgen erfahren.
Erst bei der gefühlt zehnten Überarbeitung dessen, was da schon stand, beschloss ich übrigens, aus der Ich-Perspektive in die 3. Person zu wechseln. Um ein wenig mehr Abstand zu gewinnen. Um mein Leben aus einer anderen Warte zu betrachten. So entstand Hannah. Aus deren Geschichte gibt es nun einen weiteren Auszug. Und da wir ja eben noch beim "guten Gott" waren, passt dieses Kapitel hier, wie ich finde, ganz prächtig:
Das Christkind und andere Wunderwesen
Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Das war der Trauspruch ihrer Eltern gewesen. Liebe war also ganz wichtig und Mutti, Papa und ihre Geschwister hatte Hannah wirklich sehr lieb. Nur das Christkind und die lieben Engelein liebte sie noch kleines bisschen mehr. Zu gern wäre sie ihnen einmal begegnet. Einmal hätte es fast geklappt. Es war in der Adventszeit. Eines Abends trat Mutti ans Wohnzimmerfenster, zog die Gardine zurück und sah hinaus. „Der Himmel ist ganz rot“, sagte sie, „guckt mal. Das ist so, weil die Engel gerade Plätzchen backen.“
"Wirklich?!" Hannah presste, Seite an Seite mit ihren Geschwistern, ihre Nase an die Fensterscheibe und starrte hinaus. Tatsächlich, feuerrot. Das mit den glühenden Backöfen hinter den Wolken konnte sie sich sehr gut vorstellen. Und während sie das tat, bekam sie einen unbändigen Appetit und fragte nach den Keksen, die sie gemeinsam am Vormittag gebacken hatten und die nun in Blechdosen auf ihren Verzehr warteten."Na gut, Papa gibt euch einen." Hannah verließ freudig ihren Fensterplatz, Mutti blieb stehen. Doch schon bald kam der nächste Ausruf: „Schaut mal, da oben fliegt das Christkind vorbei!!!“
Was? Das war das Aufregendste, was Hannah jemals gehört hatte. „Wo?“, schrie sie und stürzte zurück ans Fenster, ein Nussplätzchen in der Hand.
„Am Himmel, ganz da hinten.“
„Aber wo denn? Ich kann es nicht sehen!“ Ihr Herz klopfte wild, ihre Wangen glühten.
„Oh, schade, jetzt ist es weg.“
Hannah hätte sich ohrfeigen können, dass sie nicht schnell genug gewesen war. Nur eine Sekunde vielleicht hatte sie davon getrennt, dieses wunderbare, geliebte Wesen betrachten zu dürfen, von dem sie schon so viel gehört hatte. Das all die schönen Sachen unter den Weihnachtsbaum legte und auch den so herrlich leuchtenden Baum gleich mitzubringen pflegte. Das sich furchtbar anstrengen musste, um wirklich alle Kinder auf der Welt zu bedenken. Hannah sah in den noch immer roten Abendhimmel und versuchte verzweifelt, sich vorzustellen, wie das heilige Kind wohl ausgesehen haben mochte und wie es jetzt in den nicht sichtbaren Gefilden des Himmels davonschwebte, um das Weihnachtsfest vorzubereiten. Ob es zurückgeguckt und sie gesehen hatte? Ob sie erst so groß werden musste wie Mutti, um es einmal sehen zu können ...?
Hannah seufzte tief. Mit dem lieben Gott war es ja genauso. Den hatte sie auch noch nie gesehen. Aber sie war froh, dass es ihn gab. Sie konnte ganz gut allein sein, aber manchmal war es einfach gut, einen Freund zu haben, der immer da war, wenn man ihn brauchte. Das Christkind war ganz wichtig, aber eben nur zu Weihnachten. Der liebe Gott aber war das ganze Jahr über da. Hannah stellte sich ihn in einem bodenlangen Gewand vor, mit weißen Haaren, langem weißen Bart vor und gütigen Augen. Sie war heilfroh, dass der Teufel keine Chance haben würde, sie zu holen, solange der liebe Gott auf sie aufpasste. Das Dumme aber war: Das tat der nicht einfach so.
„Man muss jeden Tag beten“, behauptete Mutti, „sonst ist der liebe Gott enttäuscht und vergisst dich.“
Das wollte Hannah auf keinen Fall. Zum Glück betete sie zweimal täglich. Vorm Mittagessen sprach die ganze Familie im Chor: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns aus Gnaden bescheret hast. Amen.“ Zum Frühstück, Kaffeetrinken oder Abendbrot wurde nicht gebetet. Das mittägliche Tischgebet wurde eher heruntergeleiert als inbrünstig gesprochen, aber weglassen durfte man es keinesfalls. Erst bei einem Besuch bei Muttis Cousin Hans-Günter und dessen Frau Anneliese in Wuppertal würde Hannah erfahren, wie man solch ein Gebet mit Pathos und Würde und Liebe sprechen konnte – und zwar zu jeder Mahlzeit. Das beeindruckte sie sehr. Was Gnade war, verstand Hannah überhaupt nicht, aber das war wahrscheinlich auch nicht so wichtig. Abends betete sie, im Bett mit gefalteten Händen und fest geschlossenen Augen auf dem Rücken liegend, fast so inbrünstig wie Onkel Hans-Günther in Muttis Beisein: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Leider wusste sie auch nicht, was fromm bedeutete. Als sie größer wurde, dachte sie sich selbst etwas aus und betete allein und im Stillen. Dabei versuchte sie getreulich, alle ihre Lieben in ihre guten Wünsche einzubeziehen, und als sie nach einer Weile befürchtete, dass das vielleicht auch noch zu wenig sein könnte, bezog sie die ganze Welt in ihr Gebet mit ein.
Am Sonntag schickte Mutti, die in Wuppertal-Elberfeld aufgewachsen war, wo es neben Hans-Günter und Anneliese noch viele andere fromme Menschen gab, ihre drei Kinder zum Kindergottesdienst ins Weigele-Haus, benannt nach dem jungen Pfarrer Wilhelm Weigele, der 1893 in die Essener Altstadtgemeinde gekommen war. Dort oblag ihm die Betreuung des evangelischen Männer- und Jünglingsvereines, die er im Laufe der Zeit auf Angebote für Mädchen und Frauen ausweitete.
Das Weigele-Haus war ein beeindruckend großer Kasten mit vier Etagen, das Dach nicht mitgerechnet, und mit sehr vielen Fenstern. Es hatte keinen Kirchturm und war doch so etwas wie eine Kirche. Im großen Gottesdienstraum und in den kleinen Nebenräumen für die Kinder wurde von Jesus Christus erzählt. Dass dieser arme Jesus am Kreuz hängen musste, fand Hannah ganz schrecklich. Zum Glück gab Bärbel, die Kindergottesdiensthelferin mit dem dicken, blonden Zopf, die fast so nett war wie Fräulein Vogt, den ihr anvertrauten Kindern immer etwas zu malen oder zu basteln, erzählte schöne biblische Geschichten, wobei Hannah die von Jona im Bauch des Fisches am besten gefiel, und sang und lachte mit mit ihnen. So ging Hannah gern ins Weigele-Haus. Blöd war nur die Sache mit dem Groschen, den jedes Kind in die Hand gedrückt bekam, bevor es in den Gottesdienst ging, manchmal mit Mutti und Papa, manchmal ohne sie, weil sie endlich einmal ein wenig allein sein wollten.
„Aber nicht verlieren, hört ihr!!“ Muttis Stimme klang wieder einmal streng.
Hannah hätte ihren Groschen zu gern in ihre Sparbüchse geworfen, aber das ging natürlich nicht. Die Münze war für den samtenen Klingelbeutel mit den schimmernden Fransen bestimmt und das Geld wurde eingesammelt, bevor die Kinder den großen Raum verlassen durften. Bis dahin hielt sie ihr Zehnpfennigstück umklammert. War es endlich im Beutel gelandet, schnupperte sie an ihrer Hand, jedes Mal. Sie roch ekelig. Sie hätte den Groschen eben doch lieber in ihre Büchse werfen und ihn gegen einen Knopf aus Muttis Kiste eintauschen sollen, aber das ging auch nicht, denn dann hätte der liebe Gott sie bestimmt nicht mehr gern gehabt und dann würde der Teufel mit Flammen und Schwefel aus der Hölle nach oben fahren und sie mitnehmen. Viel zu gefährlich! Wenn das nicht lebensgefährlich war, was dann ...
Wenn Mutti und Papa mit zum Gottesdienst kamen, sangen sie die Lieder laut mit. Mutti sang gern und Papa hatte eine tolle Tenorstimme, mit der er manchem Chor zur Ehre gereicht hätte. „So nimm denn ihre Hände“ war Muttis Lieblingslied. Papa sang auch gern, nur nicht gerade Kirchenlieder. Er kam trotzdem ohne zu murren mit, weil er einfach gern tat, was Mutti wollte, und wohl auch, weil er wusste, dass der liebe Gott so wichtig für Mutti gewesen war damals im Krieg, als alles so schlimm war, aber das würde Hannah erst später klar werden. Dass die katholische Kirche Papa hinausgeworfen hatte, als er Mutti heiratete, weil sie evangelisch war, würde sie allerdings niemals verstehen. Dabei hätte sie so schrecklich gern Antwort auf all ihre Fragen gehabt, einfach alle.
Das, was ihr gerade lesen konntet, hat sich übrigens in mein Gedächtnis eingegraben. Ein Tagebuch besaß ich als Kind nämlich nicht. Dabei hätte ich gern eines gehabt. Eines mit einem großen goldenen Schloss zum Abschließen, einer Prinzessin würdig. Aber ich bekam keines. Ob ich vergessen hatte, mir eines zu wünschen? Hatte ich nur insgeheim davon geträumt? Hätte zu mir gepasst. Heute erst weiß ich, dass so was selten funktioniert.
Bis bald sagt eure
Sigrid Ruth
* Inzwischen sind Ebook und Taschenbuch verfügbar. Hier geht's direkt zur Leseprobe. Einfach links auf die drei Querstriche und dann auf Hannah klicken. Viel Spaß beim Eintauchen in eine fast vergessene Zeit! :-)
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