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Samstag, 8. Mai 2021

Sehnsüchte und Happy End als Teil der Dramaturgie

                                                                                       Der Traum vom Cafébesuch

 

Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!
Hand aufs Herz: Wird euch das zu viel, jeden Tag hier einen neuen Text zu lesen? Kommt ihr nicht mehr hinterher? Naheliegend, angesichts der allgemeinen Informationsflut. Andererseits, an einem guten Buch liest man ja auch täglich weiter und kann es im besten Fall kaum noch erwarten, es wieder zur Hand zu nehmen. Dasselbe wünsche ich euch mit meiner Geschichte. Und mit der geht es hier auch gleich weiter:  

Essen, die Einkaufsstadt
„Das können wir uns nicht leisten!“ Hannah hatte schnell gelernt, diesen Satz zu hassen. Alles, was wirklich Spaß machte, war zu teuer für eine kinderreiche Familie. Angeschafft wurde vor allem, was essbar oder anderweitig notwendig war. Und ganz gelegentlich noch etwas wirklich Teures, was Mutti sich wünschte. Einen Mantel aus Bisamratte zum Beispiel. Oder ein gebrauchtes Auto, das Papa steuerte und mit dem er Mutti und die Kinder brachte, wohin Mutti wollte. Oder eine zentnerschwere Küchenmaschine von Bosch, die Mutti einfach fabelhaft fand.
Was die Brauns im Alltag brauchten, fanden sie in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung. Hin und wieder schickte Mutti Hannah allein los, gewöhnlich mit abgezähltem Geld, aber manchmal auch mit einem größeren Schein. „Ich kann mich ja auf dich verlassen, meine Große“, sagte Mutti dann. Und Hannah nickte und kaufte beim Konsum mit den Konserventürmen im Fenster, mit der klingelnden Kasse und den ekelig schmeckenden Rabattmarken, die man gleich nach Erhalt in ein Heftchen kleben musste, ebenso zuverlässig ein wie in der mal scharf, mal blumig duftenden Drogerie ein paar Häuser weiter. Dort himmelte sie die intensiv duftende Gewürzseife an, die sich ihre Mutter hin und wieder leistete und die nur sie benutzen durfte. Das Papier, in das sie gewickelt wurde, war mit geheimnisvollen Bildern bedruckt, wie aus 1001 Nacht. Noch mehr aber hatte es ihr ein Werbeplakat für Lux-Seife an, das die Schauspielerin Christine Kaufmann zeigte. Wie schön sie war! So schön wollte Hannah auch einmal sein. Wenn sie erst groß war und auch einen Busen und Dauerwellen hatte und Lippenstift benutzen und Schuhe tragen durfte, die Pumps hießen.
An der Trinkhalle, auch Bude genannt und auf halbem Weg zu Dr. Vogeler, dem Hausarzt, gelegen, kaufte Hannah von ihrem Taschengeld für sich selbst ein: Dauerlutscher, Brausepulver, Leckmuscheln und Bonbons. Klebrige Süßigkeiten allesamt, über deren gesundheitliche Nachteile niemand groß nachdachte. Sie füllten eindrucksvoll große Gläser, aus der die dralle Pächterin je nach Wunsch für je einen oder einen halben Pfennig mit einer kleinen Blechschaufel die gewünschte Anzahl herausholte und in ein Papiertütchen plumpsen ließ. Ein einziges Mal leistete Hannah sich eine Packung Kaugummizigaretten, nahm zu Hause eine heraus und stellte sich heimlich damit vor den Spiegel. Später kaute sie die zuckersüße, zähe Zigarette, mit Bedacht, damit die Packung möglichst lange hielt. Doch das Posieren vorm Spiegel war spannender.
Zur Musikalienhandlung zwei Straßen weiter durfte Hannah eigentlich nicht hin. Sie lag direkt an der Ecke zur autoreichen Helbingstraße, die Mutti lebensgefährlich fand. Manchmal ging Hannah trotzdem hin, um die Auslagen zu betrachten. Sie hätte so schrecklich gern ein eigenes Klavier gehabt oder wenigstens eine Gitarre. Aber wozu sollte sie fragen? Die Antwort würde dieselbe sein wie so oft: viel zu teuer. Und außerdem: Wohin mit dem Klavier?! Und dann dieser Krach ...!
Wirklich spannend war es auf der anderen Seite der Unterführung. Der Essener Hauptbahnhof war nur gut fünf Minuten zu Fuß entfernt. Dahinter begann „Essen, die Einkaufsstadt“. Um sie betreten zu dürfen, brauchte Hannah Begleitung. Zum Glück ging Mutti sehr gern in die großen Kaufhäuser und es gefiel ihr, Hannah als ihre Älteste gelegentlich mitzunehmen, wenn eine Nachbarin auf die beiden Kleinen achtete. Schon der Weg in die Stadt war aufregend. Er führte vorüber an der trutzigen Verwaltung der Ruhrkohle, einem Backsteingebäude mit unzähligen Fenstern, und an den hohen Mauern des Krupp-Friedhofs, dessen Tor gewöhnlich fest verschlossen war. Ein paar hundert Meter weiter verschwand man dann zwischen den düsteren Stahlträgern der Bahnhofsunterführung, die mit riesigen Nieten zusammengehalten wurden. Dort hielt Mutti Hannahs Hand so fest, dass es weh tat - wegen der Autos und damit Hannah nicht verlorenging. Es war laut und dämmerig im Tunnel. Viele Menschen eilten hin und her, mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck oder, ein wenig müde, mit Tüten beladen und bereits auf dem Rückweg. Straßenbahnen klingelten. Autos hinterließen stinkende Auspuffgase. Züge ratterten laut donnernd, aber unsichtbar über den Köpfen der Menschen hinweg.
Wenn es endlich wieder hell wurde, eröffnete sich der Blick auf „die Stadt“. Mutti deutete auf die großen Leuchtbuchstaben, die auf dem Dach eines riesigen Hauses in den Himmel ragte, das Wahrzeichen der Stadt. Das große Haus war das Hotel Handelshof. Dort, so erzählte Mutti gern, übernachten die reichen Leute.
Dass ihre Eltern nicht reich waren, wusste Hannah ja nun, obwohl so ein Mantel aus flauschigen toten Tieren bestimmt ganz schön teuer war. Ein Schaufensterbummel aber, bei dem man ja gar nichts kaufen musste, lud zum Träumen ein und war kostenlos zu haben. Vor allem zur Weihnachtszeit waren die Fenster angefüllt mit den aufregendsten Dingen: flachen Kisten mit Stiften in allen Farben, Puppen und Puppenhäusern, Teddybären, Bilderbüchern, Legosteinen, einer Eisenbahn, die im Kreis herumfuhr, und riesigen Steifftieren, die sich bewegten, als seien sie lebendig. Mutti bewunderte lieber Tischdecken, Töpfe, Geschirr, Toaster, Waffeleisen und anderen langweilige Dinge und noch lieber die Kleider und Röcke, Blusen und Twinsets für die Erwachsenen, wie sie in anderen Fenstern gezeigt wurden, Kleidungsstücke, die von Schaufensterpuppen getragen wurden, die ebenso schön waren wie Christine Kaufmann und viel schlanker als Mutti. Was nicht nur schön, sondern auch nötig war, kaufte Mutti nach langem Abwägen in einem der großen Geschäfte. Doch das Schlendern und Abwägen machte sie müde, dass der Glanz in ihren Augen allmählich trüber wurde. Und so nahm sie Hannah jedes Mal mit in die Erfrischungsabteilung eines der Kaufhäuser, um mit ihr „Russische Eier“ zu essen, wenn es auf die Mittagszeit zuging, einen ovalen Teller voller Kartoffelsalat, garniert mit halbierten Eiern, Fleischsalat, Heringssalat und salzigen, grellorangefarbenen Lachsschnitzeln. Oder Käse-Sahne-Torte oder Apfelkuchen zur Kaffeezeit.
Neue Schuhe wurden bei Salamander in der Kettwiger Straße gekauft, einem Geschäft, das über zwei Etagen ging und kreischende Kinder über eine hölzerne Rutsche in einer Kurve von oben nach unten brachte. Im Parterre wurden Hannahs Füße, von Druckstellen durch längst zu eng gewordene Schuhe gezeichnet, durchleuchtet, um die neuen Schuhe passend auswählen zu können, denn das galt als hochmodern. Nach der spannenden Prozedur kaufte Mutti dann doch wieder auf Zuwachs – für eine Weile konnte man ja vorn ein bisschen Papier hineinstopfen. Doch es gab Trost. An der Kasse bekam Hannah ein Heftchen mit Geschichten von Lurchi, dem Salamander. Sie liebte diese Geschichten. Einmal gab es ein Bild zum Ausmalen. „Wenn du es richtig schön bunt malst, kannst du was gewinnen“, sagte die Verkäuferin, klimperte mit ihren langen, dunklen Wimpern und lächelte mit ihrem erdbeerroten Mund. 

Gegenüber von Salamander schlug im blauen Uhrenturm am Schmuck- und Uhrengeschäft Deiter ein Bergmann aus Bronze zwölf Mal auf die große Glocke ganz oben, die Figuren hinter den kleinen Fenstern bewegten sich und Glöckchen spielten eine Melodie, die Hannah gefiel und die sie kannte. Mutti sang das Lied oft daheim: Die Gedanken sind frei.
Am Fenster der Konditorei Overbeck schräg gegenüber drückte Hannah sich jedes Mal die Nase platt, bewunderte die Marzipantorte, die Erdbeer- Torteletts mit ihrem glänzenden Guss, die Zitronen-Bisquit-Rollen, in breite, weiche Scheiben geschnitten, die Schoko-Sahne-Torte und bunte, kleine Küchlein, die Petits Fours hießen. Doch dabei blieb es. Niemals ging Mutti mit ihr in dieses wunderbare Café hinein, ja, sie kaufte nicht einmal ein winziges Stück Kuchen für daheim dort.
„Komm weiter“, sagte sie, wenn Hannah sich wieder einmal nicht losreißen konnte, „das ist wirklich viel zu teuer hier für uns.“
Das ist so gemein, dachte Hannah, aber das sagte sie nicht laut. Nur die Gedanken waren frei.

Daheim konnte Hannah es kaum erwarten, zu den Stiften zu greifen. Sie gab sich alle Mühe, malte nicht nur aus, sondern noch was dazu, und gewann zu ihrem ungläubigen Stolz drei Wochen später tatsächlich einen Preis damit, ein Buch mit Geschichten aus 1001 Nacht, das sie ihr Leben lang aufheben würde. Sicher hatte der liebe Gott beschlossen, dass Hannah auch einmal etwas außer der Reihe bekam, ein wunderbares Buch.

Sehnsüchte gehören zum Leben. Und zum Lesen. Es macht dem Leser Spaß, Sehnsüchte mit Held oder Heldin zu teilen, denn es erinnert ihn an seine eigenen Träume. Dem Protagonisten wünscht er, wie sich selbst, dass die Sehnsüchte sich eines Tages erfüllen mögen. In einer ausgedachten Geschichte passiert das auch gewöhnlich - schließlich wünschen sich die meisten LeserInnen ein Happy End. Allerdings nur, nachdem Held oder Heldin anständig gelitten haben, sonst macht die ganze Sache ja gar keinen Spaß. Das gehört zur Dramaturgie. Man will mitfiebern. Bei der Autobiografie bleibt man, auch das wird erwartet, in großen Teilen bei der Wahrheit. Spannend bleiben soll es trotzdem. Alles eine Frage der Darstellung. Und wer hätte etwas einzuwenden gegen eine Spur künstlerische Freiheit ...

Ob und welche Sehnsüchte Hannahs sich in ihrem Leben noch erfüllen werden, das wird sich zeigen. Die Zeichen stehen gut. Nicht umsonst ist die Kleine eine Kämpfernatur. - Also, bleibt dran! :-)


Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth



4 Kommentare:

  1. Liebe Sigrid, in einer Großstadt aufzuwachsen scheint spannend zu sein. Und so arg arm sind Hannahs Eltern wohl nicht - bei den Einkäufen! Was der Vater wohl von Beruf ist? LG Susanne

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  2. Ich habe es mich erst nicht getraut zu schreiben, aber ich finde auch, das Hannahs Eltern nicht gar zu arm waren. Ich habe Ähnliches erlebt in meiner Kindheit. Meine Mutter ist auch ab und an 'in die Stadt' gegangen mit mir und meiner Schwester, zum Einkaufen und Stöbern. Wir Kinder durften uns manchmal bei Hussel etwas aussuchen und meine Mutter nahm eine Kleinigkeit für sich und unseren Papa mit. Alles in allem lebten wir nicht so schlecht. Es war ja auch eine aufstrebende Zeit. Und mein Vater verdiente als Angestellter so gut, daß eine fünfköpfige Familie materiell nicht darben müsste.
    Viele Grüße Jeannette

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    1. Was ist Hussel, liebe Jeannette?
      Das mit der Armut ist wirklich so eine Sache. Wir lebten natürlich viel bescheidener als es heute üblich ist damals. Wir trugen sehr oft selbstgemachte oder von irgendwoher geerbte Klamotten, an Wurst und Käse wurde gespart, Brote wurden "mit Klapp gegessen", Schuhe auf Zuwachs gekauft, wir fuhren maximal einmal im Jahr in Urlaub, auf einen Bauernhof. Und es hieß eben doch ganz oft: "Das können wir uns nicht leisten." Aber du hast Recht, wirklich arm ist das nicht. Und auch ein Mantel aus Bisamratte wäre sicher nicht drin gewesen, wenn wir hätten hungern müssen. Doch als Kind empfand ich offenbar immer ein Gefühl von Mangel. Das ist bei mir haften geblieben.
      Ich glaube, über das Thema muss ich noch mal gründlicher nachdenken. Danke für den Hinweis. :-)

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    2. Jeannette
      Ich glaube das Süsswarengeschäft heißt Hussels. Ich meine, es gibt eine Filiale im Essener Hauptbahnhof. Das ist eine Kette, die es zumindest damals in einigen Städten gab.
      Ja, sicher, man lebte damals bescheidener und musste sein Geld wirklich einteilen. Brote mit Klapp machen wir heute noch. Vielleicht netter belegt😊 Ist heute nicht auch manches übertrieben? Muss man sich jeden Tag in der Bäckerei ein oder mehrere Brötchen belegen lassen? Muss man mehr als einmal im Jahr in Urlaub fahren? Muss man die ganze Welt sehen? Kreuzfahrten machen, die Umwelt und Städte (Beispiel Venedig) schädigen?
      Um ein paar Fotos zu machen, sich schnell etwas anzuschauen und dann weiter zu fahren?
      Es wäre schön, andere Kommentare zu lesen. Um andere Meinungen zu erfahren 😃
      Beste Grüße

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