Finde hier jede Menge lebendiger Inspiration und Tipps, um deine Lebenserinnerungen, deine eigene Biografie zu schreiben und in Form zu bringen! Geschrieben von einem Kind der Fünfziger Jahre, geboren im Kohlenpott. Gedacht FÜR DICH!

Freitag, 4. Juni 2021

Schiebewurst - Kohlenpott-Essen in den 1960-er Jahren

Lesezeit: ca. 4 Minuten. Das Thema: westfälisches Essen in den 1960er-Jahren. 


Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Nur noch 25 Tage bis zum Erscheinen des E-Books, Band 1 meiner Bio-Trio-Logie. Um hier nicht zu viel verraten, gibt es heute etwas Autobiografisches anderer Art für euch. Ich hatte euch ja schon von meinen beiden Schreibdamen erzählt. Der Mann der einen nannte uns gern "Fürstinnen der Dichternis". Eines der Themen, die jeweils eine von uns vorgab, war das Thema Essen. Ich aß schon immer für mein Leben gern - nur um bald diäten oder fasten zu müssen. Doch als die Sache mit der Schiebewurst und dem Landschaftsbau auf dem Teller passierte, war Diät für mich noch ein Fremdwort. Hier kommt ein Auszug aus der Sammlung "Kinder-Augen-Blicke" zum Thema Essen für euch. Bei uns gab es nicht nur, aber auch westfälisches Essen und da meine Familie aus Essen stammt, also mitten aus de Ruhrpott, nenne ich das hier einfach mal Kohlenpott-Essen. Gerade in der nordrhein-westfälischen Küche wurde damals jedes Stückchen vom Schlachtvieh verwertet. Uns Kindern gefiel das eher weniger.


Schiebewurst und Landschaftsbau

Bei der Rangfolge im kulinarischen Gruselkabinett waren wir Kinder uns einig. Der ach so gesunde Spinat, bitter schmeckend und rahmlos, stand auf Platz neben Lungenhaschee, Kalbsbries und Sauren Nierchen gleichberechtigt auf Platz eins. Der schleimigen Graupen- oder Kartoffelsuppe, in der zerkochtes Gemüse und Stücke von grau-fettigem Rindfleisch schwammen, gebührte mindestens Platz zwei. Kochfisch in Senfsoße und Panhas, eine fest gewordene Masse aus Brühe, Buchweizen und Schweineblut, in der Pfanne gebraten, sorgten bei mir regelmäßig für einen Herpesschub.Platz drei? Wäre noch zu wenig.

Doch wir hatten keine Wahl: „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!“ Nichts durfte auf den Tellern zurückbleiben, schon wegen der armen Kinder in Afrika. Zum Glück gab es einen wunderbaren Ausgleich. Zucker machte, getreu dem Werbespruch, auch unser Leben süß und jede Woche gab es mindestens ein süßes Hauptgericht: Milchreis, in der Pfanne gebackene Quark-Rosinen-Püfferkes mit viel Zucker und Zimt oder heiße Apfelsuppe, auf der Flocken aus gezuckertem Eischnee wie kleine Segelschiffe schwammen. Erdbeeren wurden nicht einfach so gegessen, sondern in Stückchen geschnitten und mit so viel Zuckerkristallen vermischt, dass die Früchte süßen Saft zogen. Bei solch einem Essen kippten wir die fast leeren Teller mit beiden Händen zu uns heran und schleckten sie ab, bis kein Fitzelchen mehr darin zurückblieb. 

                                         

 Copyright Sigrid Ruth Stephenson

Erdbeeren pur? Nö. Zucker erst machte Hannahs Leben süß.

Mutti krauste die Stirn. „Aber Kinder“, sagte sie, „Ablecken - so was macht man doch nicht!“

Spinat gab es mindestens einmal in der Woche. Wir verabscheuten das Grünzeug beinahe so wie den nach Fisch riechenden Lebertran, der uns esslöffelweise direkt in den Mund verabreicht wurde und zum Gute-Mutter-Pflicht-Programm gehörte. Als wir begannen, wegen des Spinats ernsthaft zu streiken, ersann Mutti die Sache mit dem Landschaftsbau. Die leicht gebutterten Stampfkartoffeln, die es als Beilage gab, waren ein prächtiger Baustoff.

Sie führte es auf ihrem eigenen Teller vor. „Guckt mal, aus dem Kartoffelpüree mache ich jetzt ein Gebirge – so.“ Sie türmte es zu kleinen Haufen auf. „Und das hier wird eine große, saftige Wiese.“ Sie zeigte auf den Spinat. Dann nahm sie einen kleinen Löffel, holte aus dem Pfännchen, das auf einem eisernen Untersetzer mitten auf dem Tisch stand, ein paar ausgebratene Speckwürfel und gab sie einzeln auf die Wiese. „Das sind die Mohnblumen. Die blühen gerade.“

„Nein, das sind Kuhfladen“, rief ich und meine Fantasie begann Funken zu sprühen.  Dieses Spiel gefiel mir. Wir Kinder ließen nun ebenfalls Berge entstehen. In den Tälern breiteten sich spinatgrüne Weiden für glückliche Kühe aus. Die Zinken der Gabel zogen akkurate Furchen in den Kartoffelmus-Acker. Gab es zum Spinat neben dem unverzichtbaren Spiegelei noch einen Rest Bratensoße vom Vortag, so konnte man eine damit gefüllten Kuhle im Kartoffelbrei zum schaurigen Moor erklären, in dem  böse Leute versanken. Wenn Ketchup da war, selten genug, wurde das Rote Meer daraus. Liebevoll betrachtete ich jedes Mal die Landschaft auf meinem Teller und dachte mir spannende Geschichten dazu aus.

„Nun aber nicht trödeln“, sagte unsere Mutter. „Kalt schmeckt‘s auch nicht besser!“

Die Wurststullen am Abend hatten wir Kinder „mit Klapp“ zu essen, denn Zungenwurst, Mortadella und Salami waren teuer. Gehorsam bestrichen wir das Graubrot mit Margarine, belegten es zur Hälfte mit Wurst und klappten die andere Hälfte darüber. Nur die Erwachsenen durften Brote „ohne Klapp“ essen, angeblich weil sie weniger aßen als wir.

„Das stimmt ja gar nicht“, beschwerte ich mich. „Das ist echt gemein!“

Oma wusste wie so häufig Rat. Sie machte uns mit der Schiebewurst bekannt: Die erlaubte Wurstration wurde auf die gefettete rechte Brothälfte  gelegt, etwas entfernt vom Rand. Dann bissen wir zierlich immer nur so viel ab, dass wir ein winziges Stückchen Wurst erwischten. Vorm nächsten Bissen wurde geschoben. Zum Schluss blieb ein wahres Luxusstück übrig, ganz „ohne Klapp“!

Als fünfköpfige Familie galten wir als kinderreich. Sonst waren wir eher arm. Doch zum Essen hat’s immer gelangt. Nur mit dem Landschaftsbau sollte es vorübergehend ein Ende haben, als Oma einmal mittags zu Spinat mit Stampfkartoffeln geladen wurde. Die Teller wurden gefüllt und wir legten wie gewohnt los. Häuften und schoben, wellten und formten. Etwas, was man mit den Pinnepannekauken, dem herzhaften Kartoffelpfannkuchen auf Schwarzbrot, nicht machen konnte.

Oma sah uns mit strengem Blick zu. „Aber Kinder“, sagte sie dann und bedachte ihre Schwiegertochter mit einem so vorwurfsvollen Blick, dass Mutti ganz rot im Gesicht wurde. „Mit Essen spielt man doch nicht!“

Wir schon.

 

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Wenn ich das so lese, fällt mir wieder ein, wie Hannah in die Küche ziehen musste, wo es beim Einschlafen manchmal noch nach Essen roch. Ach, wenn es doch wenigstens der Duft von Grießpudding mit einem Stich Butter und Himbeersoße gewesen wäre ...!

Die restlichen Blog-Texte bis zum Erscheinen des E-Books, das durch Hannahs Augen mein eigenes Schicksal beschreibt, habe ich übrigens inzwischen durchgeplant. Morgen gönnt Hannah sich eine kurze Kunstpause hier im Blog. Aber schon übermorgen geht es mit Appetizern aus Hannahs Story für euch weiter. Und wie das mit besonderen Sachen so ist, schon bald will man mehr davon. Und dar kriegt ihr. Versprochen.

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth

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