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Donnerstag, 3. Juni 2021

Umgang mit Erotik, Schlüpfrigkeiten und Tabus in der Autobiografie

Das heutige Schreiberling-Thema: Wie man Texte besser macht, indem man Tabus bewusst und authentisch nutzt. Das Leserling-Thema: Hannah darf jetzt in einer alten Villa tippen. Und da gibt es einen Ort, der sie magisch anzieht. Was ein wenig zum Himmel stinkt.


Moin, meine lieben Schreiber- und Leserlinge!

Darüber spricht man nicht. Das ist ein absolutes Tabu. Das ist einfach ein No go! Das mag hier und da gelten, fürs kreative Schreiben sind diese Aussagen aber mit Vorsicht zu betrachten. Denn gerade das, was als "unanständig" oder gar skandalos bezeichnet werden könnte, erscheint vielen Lesern und Leserinnen interessant. Natürlich gibt es Grenzen, erst recht bei der Biografie. Schließlich möchte man dem Nachbarn, der zum Leser wird, noch mit offenem Blick in die Augen sehen können. Aber wenn du alles weglässt, was im weitesten Sinne intim oder peinlich sein könnte, nimmst du dir die Chance, wirklich mitreißend und authentisch zu schreiben.


"Feuchtgebiete", der erste Roman von Charlotte Roche, wurde zum Bestseller. Anfang 2008 erschienen, wurde er insbesondere durch den ausgesprochen offenen Umgang der Protagonistin mit ihrem eigenen Körper und verschiedenen Sexualpraktiken bekannt. Es gab durchaus Verrisse, Stimmen, die von Schlüpfrigkeit, Peinlichkeit und Ekel sprachen. Aber es gab noch mehr Zuspruch und Interesse. 

Ich persönlich bevorzuge die etwas leiseren Zwischentöne. Man deutet manches an, überzieht anderes mit Humor oder Selbstironie, schreibt  nicht alles, was man weiß, aber weiß immer, was man schreibt. Im vollen Bewusstsein, dass das, was man da gerade vor sich sieht und schreibend in Bilder umwandelt, für das Verständnis der Gesamthandlung durchaus von Wichtigkeit ist. Bei Hannah ist die gleich folgende Intimität nicht sexueller Natur. Aber der Auszug beschreibt dennoch etwas, was normalerweise im Geheimen geschieht ...

© Sigrid Ruth Stephenson

Es gibt Themen, die bringen echt Farbe ins Gesicht ...!

 

Die Villa

 
Der Schreibpool der Firma Babcock-Persta, in den Hannah am 1. April 1972 Einzug hielt, lag in der Essener Innenstadt, in der Nähe des Viehofer Platzes. Man hatte sie als Phonotypistin eingestellt, doch der Begriff Tippse sagte es klarer: Hannah tippte nun von früh bis spät. Andere Arbeiten waren nicht vorgesehen. Nicht einmal Kaffee für den Chef war zu kochen und auch seine Anzüge waren nicht aus der Reinigung zu holen. Die Eintönigkeit aber  machte sich bezahlt. Sie bekam dreihundert Mark mehr Gehalt als bei Coca-Cola und das war einfach ein schlagendes Argument. - Sie würde ja nicht für ewig bleiben müssen.


Da es im Betrieb keine Kantine gab, verbrachte sie die Mittagspause damit, hungrig in ihr belegtes Brot zu beißen und sich dabei in Richtung Kauftempel zu bewegen. Ein paar Minuten später,
in einem der umliegenden Kaufhäuser, Quelle und Karstadt und wie sie alle hießen, angekommen, stürzte sie sich ins Getümmel, stets auf der Jagd nach Sonderangeboten. Schon bald nach ihrem Eintritt in die Firma hatte es allerdings ein Ende mit den Einkaufsorgien. Die Firma zog nach Essen-Bredeney, in eines der schicksten Viertel der Stadt, in eine alte Villa. Und Hannahs romantisches Herz schlug Purzelbäume.

Der Schreibpool, in dem etliche, zumeist junge Damen sich die Finger wund schrieben, bekam im Souterrain der Villa mit dem verwunschenem Garten, in den Hannah sich auf Anhieb verliebte, seinen Platz. Eine richtige Villa, meine Güte! Wer hier wohl früher mal gelebt hatte ...? Wie es wohl wäre, wenn sie selbst die Herrin einer solchen Villa wäre, ganz privat ...? Wenn sie im Salon Klavier spielen würde, während ihr zehn Jahre älterer Gatte Zigarillo rauchend in der Bibliothek säße, einen Sherry in Griffnähe. Die Köchin in der Küche mit all den glänzenden Kupfertöpfen und - pfannen würde hantieren hören und den Chauffeur den Rolls Royce würde polieren sehen. - Oh Mann!  Hannah haute sich innerlich auf die Finger. Sie las einfach zu viele Kitschromane ...!


Der Alltag sah weitaus profaner aus. Peinlicherweise wurde das stille Örtchen auch im eleganten Villen-Ambiente ein wichtiger Rückzugsort für Hannah, wenn auch ganz anders als bei Coca-Cola, wo sie anfangs immer beim Klingeln des Telefons dorthin geflohen war. Inzwischen ging es nicht mehr um ihre Schüchternheit. Es ging um Verstopfung. Mutti hatte ihr kürzlich zu diesem Kräuter-Abführmittel geraten, das sie auch selbst verwende. "Ganz natürlich! Gut gegen Verstopfung und gut für die Linie." Noch immer war Hannah nicht kritisch genug, um vollmundig vorgebrachte Aussagen ihrer Mutter in Frage zu stellen.
Und wenn Kräuter drin waren, konnte es ja wohl tatsächlich so schlecht nicht sein. Also ging sie in die Apotheke und besorgte sich eine Packung des sagenumwobenen Zeugs. Abzunehmen ohne Mühe, das klang in der Tat verführerisch. 

Hannah begann noch am Abend mit der Einnahme und das Medikament zeigte Wirkung. Jeden Morgen kurz nach Dienstantritt hielt sie von nun an, nach einigen krampfartigen Gefühlen und Bewegungen in ihrem Gedärm, die schnelles Handeln erforderten, das Schreibpool-Klo besetzt. Das Zeug wirkte einfach bombastisch. Große Mengen an Stoffwechselendprodukten ergossen sich schwallweise in das blitzblanke Porzellanbecken. Es war, als würde das Innere des Darms nach außen gekrempelt, bis kein noch so kleiner Rest mehr darin zurückblieb, und das dauerte jeweils seine Zeit. Danach fühlte Hannah sich immer seeehr entschlackt. Und tatsächlich wurde ihr Babyspeck-Bäuchlein etwas flacher. Sie hielt das für ein gutes Zeichen. Mutti hatte mal wieder Recht gehabt. Sie hätte die Prozedur vermutlich noch jahrelang fortgesetzt, auch wenn die Duftwolke, die sie hinterließ, ihr trotz des aufgerissenen Fensters nach getaner Tat ein wenig peinlich war. Sie hätte, wenn nicht eine Kollegin sie eines Morgens frei heraus gefragt hatte, was zum Teufel sie denn eigentlich jeden Morgen so lange hinter der verrammelten Tür täte. "Andere müssen da auch mal hin ...!"

"Also, hm, eh, weißt du ... Meine Verdauung ist nicht die beste, und deshalb nehme ich da immer abends so ein ganz natürliches Mittel. Leider wirkt das erst, wenn ich schon hier bin."

"Du nimmst Abführmittel?! In deinem Alter? Spinnst du? Das ist überhaupt nicht gesund!"

"Aber meine Mutter nimmt das auch. Ist was mit Kräutern. Und bei uns in der Familie sind eben alle ein bisschen pummelig und da muss man schon was tun."

"Hor auf damit, Hannah! Du versaust dir die ganze Darmflora. Was erzählt dir deine Mutter denn für einen Schrott?"

Hannah spürte, wie ihr erst heiß und dann kalt wurde vor Scham. Leider fiel ihr nicht ein Argument ein, mit dem sie hätte kontern können. Sie wäre schrecklich gern unter den edlen Fußbodenfliesen der Villa verschwunden. Da das nicht ging, überließ sie stattdessen von diesem Tag an das Mittelchen ihrer Mutter, machte ihr eigenes Ding und erzog ihren Darm wieder um. Der war verwöhnte und zierte sich gewaltig. Aber allmählich klappte die Sache dann tatsächlich ganz von allein. Sie hatte sich informiert und aß nun mehr Ballaststoffe. Vollkornbrot, Obst und all so was. Und es wirkte. Unglaublich ...! Einfach toll!

...

Schon ein bisschen peinlich, oder? Aber ein Tabu? Natürlich nicht. Apropos, ich hatte mal versuchsweise den Damen in meiner Schreibwerkstatt die Aufgabe gestellt, über eine erotische Erfahrung zu schreiben. Die Ladies, sonst locker und stets zu einem Scherz bereit, der auch einmal schlüpfrig sein durfte, wollten nicht. Man könnte auch sagen: Sie weigerten sich beharrlich. Das sei ihnen denn doch zu intim. Nicht einmal zum spielerischen Umgang mit dem Thema Sex konnte ich sie inspirieren. Ich hatte zu dieser Zeit schon vor zweihundert Leuten meine erotische Geschichte beim Literaturwettbewerb im Kirchhof von Wandersleben vorgetragen und war da deutlich lockerer. Aber es war eindeutig zu spüren: Es gibt sie noch, die persönlichen Tabus. 

Für dein eigenes Schreiben möchte ich dich ermuntern, dich literarisch auszuprobieren, gerade mit dir prekär erscheinenden Themen. Sieh einfach, was das mit dir und deinem Text macht. Überschlaf es gut, ehe du Dinge veröffentlichst, die du bereuen könntest. Nicht zuletzt das Internet vergisst bekanntlich nichts. Aber wenn der Bauch dir deutlich sagt: "Mach das!", dann trau dich einfach und tu es. Sei. Du. Selbst.

Bis bald sagt Eure

Sigrid Ruth



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